Russland: Putins Pläne unter der Lupe

Die von Wladimir Putin angekündigten Verfassungsänderungen und der Regierungswechsel in Russland bieten weiterhin viel Diskussionsstoff. Kommentatoren versuchen die Rolle des neuen Premiers Michail Mischustin – bislang Chef der Steuerbehörde – zu deuten. Neben vielen skeptischen Kommentaren finden sich mittlerweile auch Stimmen, die Putins Pläne durchaus positiv sehen.

Alle Zitate öffnen/schließen
The Guardian (GB) /

Stärkung der Duma macht Russland demokratischer

The Guardian sieht im Vorgehen des Kremlchefs Gründe für vorsichtigen Optimismus:

„Wenn die Duma im Verhältnis zum Präsidenten mehr Macht erhält, wird es bei Parlamentswahlen einen intensiveren politischen Wettbewerb geben. Dies liegt weniger daran, dass sich dann ein natürlicher demokratischer Geist durchsetzt, sondern an einem politischen Eigeninteresse von Individuen. Menschen, die etwas bewegen wollen, werden von Institutionen angezogen, die ihnen diese Möglichkeit bieten. ... Putin wird irgendwann einmal abtreten - und wenn die angekündigten Reformen kommen, wird er ein politisches System hinterlassen, das echten politischen Wettbewerb ermöglicht, wie ihn Russland in den vergangenen 20 Jahren nicht gesehen hat.“

Welt (DE) /

Chance für dysfunktionale Politik

Auch der Moskau-Korrespondent der Tageszeitung Die Welt, Pavel Lokshin, kann den angekündigten Veränderungen etwas Positives abgewinnen:

„Mit der Einsetzung von Michail Mischustin als Premier und dessen angedachten Neuerungen legt Putin ein neues Raster von Checks and Balances über die dysfunktionale russische Politik. Ein Raster, das ihn überleben könnte. ... Die Umverteilung der Macht ... könnte dazu beitragen, dass die beiden großen Lager der regierenden russischen Elite, die Vertreter der Sicherheitsministerien und die des ökonomisch liberalen Wirtschaftsblocks, eine neue Arena für Konsensfindung bekommen. …. Keine der beiden Fraktionen kann [Mischustin] für sich beanspruchen. Das ist ein Fortschritt gegenüber Medwedjew, der als Liberaler galt. Und eine klare Botschaft des Kremls an die russische Elite: Es wird Zeit für Kompromisse.“

Azonnali (HU) /

Mischustin ist überparteilich und folgsam

Nachvollziehbar ist die Kür Mischustins zum Premier ebenso für Azonnali:

„Mischustin hat sich geschickt positioniert, er hat an den innenpolitischen Grabenkämpfen nicht teilgenommen und nicht mal so wirklich nach einem Posten an der Spitze gestrebt. Diese Umstände waren für Putin wahrscheinlich genug, um ihn für einen geeigneten Kandidaten zu halten. ... Außerdem besteht nicht die Gefahr, dass der ehemalige Steuerbehördenchef Putin allzu sehr über den Kopf wächst. Es ist eher zu erwarten, dass er als guter Beamter weiterhin der von Putin bestimmten Richtlinie folgen wird.“

Radio Kommersant FM (RU) /

Der Staat braucht Reformdruck

In einem Dilemma sieht den neuen Premier Radio Kommersant FM:

„Seine Aufgabe ist nicht nur, die Armut zu besiegen, sondern auch, die Popularität der Staatsmacht zu verbessern. Da kommt man mit Digitalisierung nicht weit - es braucht Reformen. Aber wie soll man die machen, wenn Hardliner das Business quälen und eine lokale Selbstverwaltung faktisch fehlt? Vor Ort ist man gewohnt, im Gegenzug für materielles Wohlergehen bei Wahlen Prozente zu liefern. ... Die Staatsmacht gerät jetzt in eine Lage, in der es für sie riskant wird, wenn sie nichts als den Anschein von Veränderungen schafft. ... Man fragt sich: Gibt es einen Plan, eine Strategie?“

Ukrajinska Prawda (UA) /

Kasachische Blaupause

In hohem Maße skeptisch zeigt sich Ukrajinska Prawda und glaubt, dass Putin sich in einem Nachbarland etwas abgeschaut hat:

„Höchstwahrscheinlich wird er tun, was Nasarbajew in Kasachstan vorexerziert hat. Kurz vor seinem Rücktritt hat Nasarbajew die Befugnisse des Sicherheitsrats erweitert [dem er vorsteht]. ... Der neue Präsident von Kasachstan muss sich nun mit Nasarbajew in allen wichtigen Ernennungen und Entscheidungen einigen. Darüber hinaus hat er seine Rolle als 'Leader der Nation' in der Verfassung verankern lassen. … Wenn Putin will, wird ihm niemand verbieten, sich auch als 'Leader der Nation' oder gar als 'Leader der gesamten Rus' [historisches Gebiet, das heute Russland, Belarus und die Ukraine umfassen würde] in die Verfassung Russlands eintragen zu lassen.“

Gazeta Wyborcza (PL) /

Putin wird als Putin weiterarbeiten

Für Gazeta Wyborcza ist klar, dass Putin Vorbereitungen für das Ende seiner Amtszeit trifft:

„Der Präsident will, dass die Verfassung 'den Status des Staatsrates' erhöht. Die Erwähnung dieses seltsamen Beratungsgremiums mit nicht näher festgelegten Kompetenzen könnte eine wichtige Ankündigung sein. Moskauer Beobachter haben sich schon lange gefragt, wo Putin nach 2024 'als Putin weiterarbeiten wird', also als Führer der Nation, der die Situation kontrolliert. ... Vielleicht wird er dann im Chef-Sessel des von ihm bis dahin mit großzügigen Rechten ausgestatteten Staatsrats Platz nehmen? Oder vielleicht geht er davon aus, dass er es als Regierungschef besser haben wird, und zögert deshalb, die Rolle von Regierung, Rat und Parlament nach dem 'Machtübergang' genau zu definieren?“

Echo Moskwy (RU) /

Ein Präventivschlag des vielköpfigen Drachens

Auch Oppositionspolitiker Dmitri Gudkow zeigt sich in einem Blogbeitrag auf Echo Moskwy sicher, dass Putin trotz aller Rochaden die Fäden in der Hand behalten wird:

„Es ist sinnlos, jetzt zu diskutieren, welcher Posten nun geschwächt oder welche Behörde gestärkt wurde: Das sind alles Köpfe von Smej Gorynytsch [ein mehrköpfiger Drache aus der russischen Sagenwelt], die einen gemeinsamen Körper und einen gemeinsamen Schwanz haben. Putin hat beschlossen, nicht das Risiko einzugehen, eine ungeordnete Übergangszeit abzuwarten, sondern als erster zu agieren. Er schneidet alles auf sich zu, um sich nicht mehr durch irgendwelche Wahlen quälen zu müssen. Ein Umsturz der Verfassung kann auch so ablaufen: völlig legal.“

Telegram.hr (HR) /

Der Zar hat noch zwei, drei Jahrzehnte vor sich

Russland rutscht noch tiefer in den Sumpf des Autoritären ab, analysiert Telegram.hr:

„Das ist keine gute Nachricht für irgendjemanden auf der Welt, aber am schlimmsten ist es für die russischen Bürger, die nun auf einen Schlag einige Jahrzehnte weiter entfernt von der Demokratie sind. Hauptmerkmal autoritärer Regime ist die Angst vor den eigenen Bürgern und ein daraus resultierender Mangel an Legitimität. Es scheint, als hätte Wladimir Putin einen Weg gefunden, dieses Problem zumindest für einige Zeit zu umgehen und Russland unter seine dauerhafte, absolute Macht zu bringen. Putin ist nun 67, was heißt, dass er als 'Zar' noch zwei bis drei traurige Jahrzehnte an der Macht bleiben könnte.“

Dagens Nyheter (SE) /

Diktatorische Macht mit demokratischen Mitteln

Für Dagens Nyheter sind die jüngsten Vorgänge in Russland symptomatisch:

„Niemand dürfte glauben, dass Wladimir Putin jemals vorhatte, die Macht abzugeben, bevor er selbst es will. In der Türkei würgt Recep Tayyip Erdoğan kontinuierlich die demokratische Kontrolle ab, um Jahr für Jahr an den Macht zu bleiben, beispielsweise 2017 mit einem Referendum, das stark an Putins jüngste Aktion erinnert. Wir haben geglaubt, die Demokratie werde die Diktatur besiegen und Stimmzettel würden mächtiger als Waffen sein. Nun nutzen die Diktatoren Stimmzettel, um sich an die Macht zu klammern.“

Der Bund (CH) /

Riskante Manöver

Anders sieht die Dinge Der Bund und glaubt, dass Russlands Präsident die innenpolitische Stabilität des Landes aufs Spiel setzt:

„Das Vertrauen in den Präsidenten ist zwar die letzten Jahre deutlich gesunken, es bleibt aber hoch und bildet das Rückgrat seines Staates. Die Vertrauenswerte in Premier und Regierung sind viel tiefer, und dem Parlament trauen die Russen überhaupt nicht über den Weg. Zudem ist die Frage offen, welche Rolle sich Putin selber bei der ganzen Rochade herausnimmt. Will er in vier Jahren das Amt des mächtigen Premiers übernehmen? Das hat er schon einmal getan. Es ist beim Volk nicht gut angekommen und hat zu den Massendemos geführt. Putin ist kein Mann, der zweimal den gleichen Fehler macht. Das letzte Wort in Sachen Wachablösung dürfte deshalb noch nicht gesprochen sein.“