Fünf Jahre "Wir schaffen das"

Vor fünf Jahren, am 31. August 2015, hat Bundeskanzlerin Angela Merkel in einer Pressekonferenz unter anderem einen Satz gesagt, der zunächst kaum Beachtung fand: "Wir schaffen das." Heute zählen diese Worte zu den zentralen Aussagen in der Flüchtlingskrise. Kommentatoren fragen, ob sich ihre Prophezeiung bewahrheitet hat.

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Neue Zürcher Zeitung (CH) /

Das Versagen der Kanzlerin

Die Bundesregierung war damals mit der Lage überfordert, meint die Neue Zürcher Zeitung:

„Im Herbst 2015 wurden die Grenzen der Belastbarkeit überschritten. ... Selbst tolerante und offene Gesellschaften wie die deutsche haben eine limitierte Aufnahmebereitschaft. Wird diese überstrapaziert, führt dies unweigerlich zu Gegenreaktionen. Der zentrale Vorwurf, den man der Kanzlerin und ihrem Kabinett machen muss, lautet, dass sie diese Wirkungszusammenhänge ignorierten. ... Die Bundesregierung war zeitweise nicht mehr Herrin der Lage. Sie war ausserstande, steuernd einzugreifen und einen Kompromiss zwischen humanitärer Grosszügigkeit und nationalem Interesse zu finden. Man muss das nicht Staatsversagen nennen, ein Versagen bleibt es allemal.“

De Volkskrant (NL) /

Die Kehrseite des historischen Satzes

Die Krise ist längst nicht gelöst, erinnert De Volkskrant:

„Auch fünf Jahre nach 'Wir schaffen das' sperrt die EU noch immer eine große Zahl an Flüchtlingen in griechischen Flüchtlingslagern weg. Diese Orte sind der Schandfleck des reichsten und am weitesten entwickelten Kontinents der Welt, wo Leute gerne kopfschüttelnd über die mexikanische Mauer und die Käfige von Donald Trump reden, aber lieber nicht über Moria nachdenken. Die griechischen Auffanglager sollten eigentlich Durchgangslager sein, aber für viele wurden sie zur traurigen Endstation. ... Boote ins Meer zurückstoßen und Menschen ohne Rechtsgrundlage in die Türkei zurückschicken: Das ist nicht erlaubt, aber dennoch geschieht es. Es gibt noch viel zu 'schaffen'.“

Respekt (CZ) /

Integration läuft, Fluchtgründe bleiben

Respekt zieht eine durchwachsene Bilanz der Merkelschen Flüchtlingspolitik:

„Die Integration vor Ort läuft - und gleichzeitig ist jedem Beobachter klar, dass dieser Prozess mindestens zwei Generationen dauern wird. Doch Merkels Satz 'Wir schaffen das' beinhaltete auch das Versprechen eines wirklich gemeinsamen europäischen Asylsystems. Weil der Exodus bedürftiger Menschen nicht die Wurzeln der Probleme in Afrika und im Nahen Osten löst und auch die Fähigkeit Deutschlands, Flüchtlinge aufzunehmen, begrenzt ist. Darüber hinaus müssen Politiker auch Bürger berücksichtigen, die befürchten, dass die Ankunft so vieler Menschen aus anderen Kulturen ihre Heimat bis zur Unkenntlichkeit verändern wird.“

Der Standard (AT) /

Thema Einwanderung wird zu negativ gesehen

Die Politik sollte endlich die positiven Seiten von Einwanderung in den Vordergrund stellen, fordert Der Standard:

„Momentan geht den Menschen die Angst vor einer Infektion mit dem Coronavirus zwar näher als jene vor Menschen mit fremdländischen Wurzeln. Aber ohne großes Risiko kann man prognostizieren: Das 'Ausländer-Thema' wird wieder kommen - und es wird dabei höchstwahrscheinlich wieder unappetitlich. Denn gelernt haben wir aus der damaligen Krise wenig. Am allerwenigsten die Politik. ... Die politische Fixierung auf das Thema Ausländer war bisher hauptsächlich negativ. Dass Zuzug auch Chancen birgt, sehen viele bis heute nicht.“