Wie geht es der russischen Wirtschaft wirklich?

Die russische Wirtschaft ist nach Angaben des nationalen Statistikamts im Sommer stärker gewachsen als erwartet. Das Bruttoinlandsprodukt BIP legte im dritten Quartal 2023 um 5,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahr zu. Es ist das stärkste Plus seit Beginn des Ukrainekriegs. Was das für Europas Sanktionspolitik bedeutet und ob man den Zahlen trauen kann, diskutieren Kommentatoren.

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Nowaja Gaseta Ewropa (RU) /

Rüstungsgüter schaffen keinen Wohlstand

Wirtschaftsprofessor Konstantin Sonin erklärt in Nowaja Gaseta Ewropa, warum es den Russen nur auf dem Papier besser geht:

„Das 'BIP-Wachstum', über das die Fachwelt derzeit diskutiert, ist eine statistische Fiktion. ... Unter normalen Umständen zeigt das Wachstum des Pro-Kopf-BIP zugleich an, wie sehr der Lebensstandard gestiegen ist. ... In Kriegszeiten weichen diese Indikatoren voneinander ab. ... Denn hergestellte Panzer, die vor Awdijiwka in der Ukraine brennen, oder auf ukrainische Städte abgefeuerte Raketen gehen zwar in das BIP ein, verbessern aber nicht den Lebensstandard der Russen. Würden stattdessen Computer oder Autos hergestellt oder Zahnärzte oder Trainer ihre Dienste leisten, würde sich dies auch auf den Lebensstandard auswirken.“

Anatoli Nesmijan (RU) /

Eier statt Huhn

Publizist Anatoli Nesmijan konstatiert auf Facebook tatsächlichen Devisenmangel in Russland:

„In den amtlichen Berichten ist alles in Ordnung, das BIP wächst, die Arbeitslosigkeit sinkt, die Einkommen der Bürger gehen durch die Decke - aber im realen Leben streiten sich die Leute um Eier, denn selbst das billigste Hühnerfleisch ist für einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung nicht mehr erschwinglich. Man kann lange und selbstvergessen lügen, und die Lügen werden sogar geglaubt. Aber bei abgeschaltetem Fernseher sieht alles so aus, wie es ist. Ein rohstoffbasiertes Wirtschaftsmodell ist an sich schon riskant. Doch wenn es der Führung gelungen ist, die Beziehungen zu allen großen Abnehmern von Exportgütern abzubrechen und zu zufälligen Abnehmern überzugehen, ist es kein Wunder, wenn die Devisenquellen versiegen.“

Neatkarīgā (LV) /

Nachlässige Politik

Daten zeigen, dass in diesem Jahr in 382.808 Tonnen Nahrungsmittelgetreide aus Russland über lettische Grenzkontrollpunkte in die EU importiert wurden. Neatkarīgā ist verärgert:

„Die Zahlen lassen darauf schließen, dass lettische Politiker, sei es auf lokaler oder europäischer Ebene, entweder lahm oder sogar leichtfertig waren, weil sie bei Weitem nicht genug gearbeitet haben, um es Russland schwer zu machen. ... Jeder zusätzliche Euro oder Dollar, der nach Russland fließen darf, stärkt den militärisch-industriellen Komplex des Landes. Wenn europäische Politiker mit der Organisation von Waffenlieferungen überfordert sind, dann können sie vielleicht zumindest die rechtlichen und regulatorischen Grundlagen so gestalten, dass der Zugang Russlands zu Deviseneinnahmen so weit wie möglich eingeschränkt wird.“

Fokus (UA) /

Ukraine hinkt hinterher

Auch die Wirtschaft der Ukraine muss endlich in den Kriegsmodus schalten, schreibt Journalist Taras Mokljak in Fokus:

„Was die [russische] Wirtschaft betrifft, so erreichen die westlichen Sanktionen keines ihrer Ziele, weder einen Rückgang des russischen BIP um 30 Prozent noch eine Verringerung der Importe um 50 Prozent. Stattdessen sind Russlands Exporte um 20 Prozent im Vergleich zum Vorjahr gestiegen. Heute verfügt Russland über praktisch uneingeschränkte finanzielle Ressourcen für den Krieg. ... Die Ukraine hingegen hat keine Strategie, um ihre Wirtschaft auf Krieg umzustellen, was angesichts der politischen Turbulenzen im Westen das einzig mögliche Szenario für das Überleben unseres Landes ist. ... Ändern wir nicht die Herangehensweise, verlieren wir.“