Kasachstan: Was steht für Moskau auf dem Spiel?

Wegen der gewaltsamen Proteste in Kasachstan sind erste Einheiten einer von Russland angeführten sogenannten Friedenstruppe des Militärbündnisses OVKS in dem Land eingetroffen. Allerdings ist diese Aktion nicht für alle Kommentatoren ein Zeichen der Stärke.

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La Repubblica (IT) /

Das erinnert an Breschnews Panzer in Prag

Die Lage in Kasachstan schwächt Putin letztendlich in den Ukraine-Verhandlungen, glaubt La Repubblica:

„Der russische Präsident hatte sich vorgenommen, aus einer Position der Stärke heraus anzutreten und eine Weltanschauung durchzusetzen, die auf dem geopolitischen Atlas des Kalten Krieges basiert. Das gesamte von Moskau lancierte Vorschlagspaket zielt auf die Schaffung eines strategischen Schutzraumes für Russland ab. Einige sprachen gar von einer 'neuen Konferenz von Jalta'. Jetzt, wo Kasachstan in Aufruhr ist, erinnert Putin jedoch weniger an Stalin denn an Breschnew, der Panzer der UdSSR und der Mitglieder des Warschauer Paktes nach Prag schickte, um Dubčeks Prager Frühling gewaltsam zu unterdrücken.“

Verslo žinios (LT) /

Putin in der Sackgasse

Die Unruhen in Kasachstan sind bedrohlich für Putin, denn sie zeigen, wie schwach die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) ist, meint Verslo žinios:

„Die Ereignisse in Kasachstan haben ein offenes Geheimnis enthüllt: Putin ist ein Koloss auf tönernen Füßen und die GUS ist genauso bröckelig, wenn sie nur mit Hilfe der korrupten lokalen Diener und Silowiki [Sicherheitskräfte], russischer Rubel und russischem Militär zusammenhält. Die Ukraine, Moldau, Georgien, Belarus, Kasachstan - Wer kommt als Nächstes? Bislang ist es Putin gelungen, den Geist in die Flasche zurückzutreiben, aber der Flaschengeist wird immer stärker und die Diktatoren immer schwächer. Russland kann dem Druck nicht ewig standhalten. ... Russland hat keine normalen Nachbarn mehr und gerät immer mehr in eine Sackgasse.“

Der Standard (AT) /

Ruhe um jeden Preis

Der Kreml versucht verzweifelt den Einfluss auf die ehemaligen Sowjetrepubliken zu bewahren, meint Der Standard:

„Russland hat Fallschirmjäger nach Kasachstan geschickt. Polizisten und zivile 'Befriedungs'-Experten dürften folgen. Eine schnelle Reaktion auf die Unruhen im Nachbarland. Aber eine, mit der der Kreml Gefahr läuft, sich viele Kasachen zum Feind zu machen. Erst recht, wenn seine Soldaten auf Demonstranten schießen. ... Mit seiner schnellen Hilfe für Präsident Kassym-Schomart Tokajew zeigt der Kreml - wie in Belarus und Syrien -, was für ihn zählt: der Machterhalt der Elite, die Sicherung des Moskauer Mikrokosmos, Ruhe um jeden Preis. Das scheint wichtiger als das Begehren nach Freiheit, Wohlstand oder Autonomie.“

Ria Nowosti (RU) /

Jetzt ist die OVKS kein Papiertiger mehr

Ria Novosti zeigt sich erfreut über die Aktivierung des Verteidigungsbündnisses OVKS:

„Bislang erregte die OVKS zumeist abschätzige oder ironische Reaktionen, denn man sah in ihr nichts anderes als ein formales Papierkonstrukt. Nun geht die OVKS vor den Augen aller Welt in ihre Feuertaufe. ... Die aktuellen Ereignisse zeigen, dass Kasachstan mit der Krise nicht allein bleibt. Ja, es muss die eigentliche Herausforderung selbst meistern, aber ihm stehen jetzt Alliierte zur Seite, die ihm den Rücken decken und die Sicherheit strategischer Objekte garantieren. Diese Tür steht auch für andere Länder der Region offen. Die kollektive Sicherheit im postsowjetischen Raum ist von einem Moment auf den anderen kein virtuelles Konstrukt mehr, sondern hat sich in praktizierte Realität verwandelt.“

Postimees (EE) /

Nasarbajews Schicksal ist Putin eine Warnung

Da sich auch Putin um seine Zukunft sorgt, wird er das Schicksal des langjährigen Machthabers Nasarbajew auch aus ganz persönlichem Interesse verfolgen, glaubt Postimees:

„Die Ereignisse in Kasachstan haben nicht nur dort, sondern auch in Russland die politischen Karten unerwartet neu gemischt. Nicht etwa, weil Menschen ums Leben kamen oder das Land von der Welt abgeschnitten wurde. Sondern wegen der Nachricht, dass Präsident Tokajew den 'Vater des Volkes', Nasarbajew, angesichts der Unruhen von dessen Stelle als Vorsitzendem des Sicherheitsrates abberufen hat. Es gibt keine Garantien! Für den Kreml und Putin ist das eine Lehre: Egal, wie gut alles durchdacht ist, gibt es keine hundertprozentige Machtgarantie für den ehemaligen Präsidenten.“

NV (UA) /

Russland wartet nur auf seine Chance

Der Historiker Timothy Garton Ash fürchtet in NV, dass sich Moskau die Proteste zunutze machen könnte:

„Meine Prognose lautet wie folgt: Das Tokajew-Regime wird zunächst sanft vorgehen und Zugeständnisse machen, bevor es zu härteren Maßnahmen übergeht. Sie werden angewandt, sollten die Proteste anhalten. Schließlich sind sich die kasachischen Behörden der Gefahr einer russischen Intervention bewusst, wenn die Situation nicht schnell unter Kontrolle gebracht wird. Moskau hat den Norden Kasachstans, in dem viele ethnische Russen leben, schon lange im Visier. Es wird befürchtet, dass Moskau den Norden Kasachstans einfach als Teil eines großrussischen Konstrukts annektieren könnte.“

Echo Moskwy (RU) /

Auch die Geduld von Sowjetmenschen ist endlich

In Kasachstan kann man nun das typische Scheitern einer postsowjetischen Autokratie beobachten, meint Echo Moskwy:

„Es gibt keine ewige Liebe und keine ewige Geduld. Ein Führer kann beim Volk beliebt sein und das für lange, aber um ihn herum entsteht unweigerlich ein System aus tausenden Schmarotzern, Nichtsnutzen, Karrieristen und Gaunern, die beginnen, das Land als ihren Besitz zu betrachten und das Volk als ihre Bedienstete. ... Die Sowjetmenschen - und das sind wir alle noch irgendwie - sind sehr geduldig, zäh und demütig. Aber auch bei Sowjetmenschen ist dieses Reservoir an Geduld nicht grenzenlos. Nasarbajew ist fünf Jahre früher als Lukaschenka und zehn Jahre vor Putin an die Macht gekommen. Nun können wir uns ausrechnen, wem noch wieviel Zeit bleibt.“

Frankfurter Rundschau (DE) /

Das Fass ist übergelaufen

Auch wenn die Gaspreise die Proteste ausgelöst haben mögen, sind die Ursachen struktureller Natur, meint auch die Frankfurter Rundschau:

„Da ist zunächst die Zentralisierung der politischen Gewalt und das Abschöpfen von wirtschaftlichen Gewinnen durch das Zentrum. Der Reichtum des riesigen Landes fließt also in die Hauptstadt, die Provinz hat wenig zu melden. Auch die autoritäre Staatsführung ist ein Erbe der Sowjetunion, ebenso die Bevorzugung einer technokratischen, loyalen Elite. Nur der sich lange entwickelnde Wohlstand vermochte den Großteil der Bevölkerung ruhigzustellen. ... Kasachstan stehen unruhige Zeiten bevor und es ist nicht absehbar, ob sie in bessere Zeiten münden.“

Wprost (PL) /

Drücken wir den Demonstranten die Daumen!

Wprost zeigt sich solidarisch mit den Kasachstanern, die aus eigenem Antrieb protestieren:

„Der Aufstand ist ein Ausbruch aus der traurigen Alltagsrealität unglücklicher Untertanen postsowjetischer Satrapen, die von ewiger Macht und großen Imperien träumen. Es sind nicht die mythischen Nato-Kriegstreiber, die ein Komplott schmieden, sondern die einfachen Menschen, die aus eigenem Antrieb ein anständiges Leben, Freiheit und Demokratie wollen. Sie sind bereit, für diese Ideen, die von Kreml-Zynikern verspottet werden, gegen die Polizei aufzustehen. Drücken wir ihnen die Daumen, denn auch wenn das Zusammentreffen des kasachischen Wutausbruchs mit Putins kriegerischem Zirkus gegen Europa nur zufällig ist, so ist es für uns doch sehr willkommen.“