Wie steht Russlands Bevölkerung zum Krieg?

Selbst unabhängige Umfragen in Russland messen rund 82 Prozent Zustimmung zu Putins Politik, seit Wochen ist die Zahl in etwa konstant. Dabei wachsen in Europas Kommentarspalten die Zweifel, wie verlässlich diese Ergebnisse angesichts von Propaganda, Zensur und Strafen für Proteste überhaupt sein können - zumal der Krieg gegen die Ukraine nun schon mehr als 100 Tage andauert.

Alle Zitate öffnen/schließen
The New Times (RU) /

Apathie statt Aufbruchsstimmung

The New Times schreibt:

Hundert Tage sind halt viel für etwas, das sich 'Operation' nennen möchte. Ihre Überlänge senkt das Interesse des breiten Publikums. Man möchte meinen, genau das braucht der Kreml. Doch die in der Gesellschaft umsichgreifende Apathie demobilisiert. Dabei braucht Putin eine Mobilisierung der Massen. Dass der Konflikt zur Routine wird, bedeutet auch, dass selbst die Unterstützer der 'Operation' das Gefühl nicht loswerden können, in einem ständigen, nicht enden wollenden Alptraum zu sein, der das frühere Leben zerstört und den Russen die Zukunft genommen hat. Ja, den Russen. Denn in der 'Nachoperationszeit' werden die Ukrainer eine Zukunft haben und Enthusiasmus beim Wiederaufbau zeigen. Die geächteten Russen haben keine solche Zukunft.“

wPolityce.pl (PL) /

Propagandabild von der Ukraine zerfallen

Der Kreml stolpert über seine eigenen Illusionen, so wPolityce:

„Der Verlauf des anhaltenden Krieges stellt einen echten Schock für die russische Führung dar. Es hat sich gezeigt, dass es weniger 'Kleinrussen' gibt als erwartet und dass niemand bereit ist, weitere selbsternannte 'Volksrepubliken' auszurufen. Stattdessen gibt es viel mehr 'Nazis', und zwar nicht nur im Westen, sondern auch im Osten und Süden der Ukraine. ... Die große Mehrheit der 'Chocholen' [abwertende Bezeichnung für Ukrainer] ist entschieden für die Unabhängigkeit vom 'Großen Bruder'. ... Damit liegt das gesamte Bild der Ukraine, das über Jahre in den Kabinetten des Kremls gepflegt wurde, plötzlich in Trümmern.“

Népszava (HU) /

Es ist nicht nur Putin

Die russische Bevölkerung trägt sehr wohl eine Verantwortung dafür, dass es so weit kommen konnte, meint Népszava:

„Russland ist zwar eine Autokratie, aber es ist infolge freier Wahlen zur Autokratie geworden. ... Fortwährend hat 'das Volk' zu den Maßnahmen, die den Rechtsstaat ausgehöhlt haben, zustimmend genickt. Und es hält bis heute nicht Putin und den Kreml für den Feind, sondern die Opposition, die angeblich von George Soros und 'dem feindlichen Westen' finanziert wird, sowie 'die ausländischen Agenten'. Heutzutage braucht man zum Ausbau einer Diktatur auch das Volk - nicht nur in Russland.“

The New Times (RU) /

Zwischen jungen und alten Ja-Sagern

Jewgenia Albaz, Chefredakteurin der The New Times, hat in der russischen Provinz die Stimmung zum Krieg sondiert. Dabei sind ihr große Generationenunterschiede aufgefallen:

„Menschen vor oder im Rentenalter wurden unter der Sowjetherrschaft sozialisiert, als jeder Widerstand heikel war und eine Einflussnahme auf Entscheidungen und Handlungen der Staatsmacht unmöglich. ... Die Generation der 30- bis 40-Jährigen ist in völlig anderen Verhältnissen aufgewachsen: Individualisten hatten Erfolg, es gab Wahlen, Protestdemos und die Überzeugung, dass man Rechte hat. All dies hat eine völlig andere Einstellung zum Staat hervorgerufen. ... Die 20-Jährigen, die keinen anderen Chef als Putin und weder Angst vor der Rückkehr der Sowjetverhältnisse noch die Erfahrung von Freiheit kennen, haben nichts als Komplexe, die sie mit der Vorstellung von der Zugehörigkeit zu einem Elite-Volk kompensieren.“

wPolityce.pl (PL) /

Weniger Begeisterung, als es scheint

Historiker und Russland-Experte Marek Budzisz meint in wPolityce, Risse in der russischen Kriegsbefürwortung zu erkennen:

„Das Bild ist nicht so eindeutig, wie es die offiziellen Umfragen vermuten lassen, worauf andere Befragungen und die Ereignisse in Russland seit Beginn des Kriegs hindeuten. Ich denke dabei insbesondere an die Tatsache, dass in den letzten zwei Monaten bereits in sechs russischen Städten Molotowcocktails auf die Gebäude von Musterungsbehörden geworfen wurden, was nicht gerade auf eine euphorische, kriegsbegeisterte Stimmung schließen lässt.“