Gerät Putin durch Kritik im Innern unter Druck?

In Russland werden kritische Stimmen lauter: Kommunalpolitiker sammeln Unterschriften für eine Rücktrittsforderung an Putin. Auch Kreml-nahe Medien äußern teils Skepsis gegenüber der Kriegsführung. Gleichzeitig haben die Kandidaten der Putin-Partei offiziellen Angaben zufolge bei den Regionalwahlen vergangene Woche klar gewonnen. Beobachter sehen allerdings zahlreiche Hinweise auf Betrug. Kommentatoren diskutieren die Bedeutung dieser Entwicklungen.

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Jutarnji list (HR) /

Die Propaganda kommt nicht hinterher

Russische Propagandisten können sich kaum noch die militärischen Erfolge der Ukraine schönreden, beobachtet Jutarnji list:

„Der ultranationalistische Schriftsteller Sachar Prilepin, ehemaliger Kommandeur im Marionettenstaat Donezk, rief die Russen auf, die Nachrichten 'nicht zu lesen, um sich nicht aufzuregen' und [der Kreml-nahe Soziologe und Journalist] Valerij Korovin meint, 'man solle den ukrainischen und westlichen Fake News zur Lage an der Front nicht glauben'. ... Putins Propagandamaschine war nicht bereit für so eine Wende des Kriegs, weshalb zum Beispiel am 11. September in den Hauptnachrichten im ersten russischen Fernsehen davon keine Rede war. ... Doch konnte man diese Wendung und den Abzug russischer Truppen in diesem Frontabschnitt nicht lange verstecken.“

Salzburger Nachrichten (AT) /

Schweigen bleibt erste Bürgerpflicht

Der Aufruf der Kommunalpolitiker verhallt im Nirgendwo, meinen die Salzburger Nachrichten:

„Die Kommunalabgeordneten, von denen übrigens manche bei den Lokalwahlen am Wochenende ihre Mandate wieder verloren haben, sind nicht mehr als die Reste der hoffnungsfrohen jungen Opposition, die sich noch im Jahr 2018 um Kremlkritiker Alexej Nawalny scharte. … Es ist wahrscheinlich, dass in Russlands Ministerien und Chefetagen die Begeisterung über den politischen Kurs des Staatschefs schrumpft, vor allem über sein ukrainisches Feldherrentum. Vielleicht ist das auch im Kreml schon der Fall. Und sicher wächst auch die Zahl der einfachen Russen, die mit beidem nichts mehr anfangen können. Aber noch betrachten sie Schweigen als erste russische Bürgerpflicht.“

Tages-Anzeiger (CH) /

Politischer Wettbewerb längst Fassade

Manipulierte Wahlen haben zum Ziel, den Protest zu lähmen, meint der Tages-Anzeiger:

„Unabhängige Kandidaten dürfen nicht antreten. Gefälschte Wahlzettel landen bündelweise in den Urnen. Scheinoppositionelle gaukeln politischen Wettbewerb vor. … Manipulierte Wahlergebnisse lassen die Opposition als bemitleidenswertes Häufchen erscheinen und suggerieren jedem, der mit Putins Politik nicht einverstanden ist, dass er allein dasteht. Wie lähmend das wirkt, zeigt sich in Russland seit Kriegsbeginn deutlicher denn je.“

Polityka (PL) /

Machtübergabe statt Putsch

Sollte es zu einem Machtwechsel kommen, wäre dieser kein abruptes Ende von Putins Einfluss, glaubt Polityka:

„Das Szenario eines Putsches oder einer großen Revolution ist unwahrscheinlich. Im Falle einer wachsenden Unzufriedenheit der Bevölkerung ist es wahrscheinlicher, dass eine 'Machtübergabe' ins Spiel kommt. Hierfür hatte sich Boris Jelzin entschieden, als er Putin im Gegenzug für Sicherheitsgarantien zum Nachfolger ernannte. Sollte Putin angesichts der Niederlage in der Ukraine beschließen, sich zur Genesung seiner angeschlagenen Gesundheit zu beurlauben und (sagen wir, bis zu den Wahlen 2024) einen geschäftsführenden Präsidenten zu ernennen, dann wäre ein Wechsel im Kreml eher eine leichte Kurskorrektur. Vielleicht aber auch eine zufriedenstellende für den Westen.“

Ria Nowosti (RU) /

Wir schreiben nicht das Jahr 1917

Putin hat die Zügel fest in der Hand, lässt die staatliche Nachrichtenagentur Ria Nowosti wissen:

„Schon beginnt man, von 'Absprachen' und 'Verrat in der Führung' zu sprechen. ... Ungeachtet dessen, dass Defätismus, Endzeitstimmung und Panik auch von unseren militärischen Gegnern geschürt werden, braucht man jetzt keine Wiederholung des Szenarios von 1915 bis 1917 zu fürchten - als im Verlauf des Kriegs der russische Staat von innen gestürzt wurde, da ein großer Teil der Gesellschaft von der wirren Idee von 'Dummheit oder Verrat' in der Führung erfasst war. Das Vertrauen zu Wladimir Putin ist weiterhin auf sehr hohem Niveau - wie auch die Überzeugung, dass der Oberkommandierende entschlossen ist, einen Sieg zu erringen.“