Neue Bundesregierung, neue Perspektiven?

Im Bundestag sollte am heutigen Dienstag Friedrich Merz (CDU) mit der Mehrheit von CDU, CSU und SPD zum neuen Bundeskanzler gewählt werden. Die drei Parteien verfügen über 328 Mandate. Im ersten Wahlgang erhielt er aber nur 310 Stimmen, sechs weniger als nötig. Europas Medien bewerteten im Vorfeld das politische Potenzial einer schwarz-roten Koalition.

Alle Zitate öffnen/schließen
Český rozhlas (CZ) /

Mit Hypotheken am Start

Die Regierung stünde vom ersten Tag unter großem Druck, meint Český rozhlas:

„Das liegt vor allem an Friedrich Merz, der im Wahlkampf große Erwartungen geweckt hat. Doch schon wenige Tage nach der Auszählung der Stimmen musste er viele seiner Versprechen zurücknehmen, etwa in der Schuldenfrage. Eine Wende mit fatalen Folgen. Zwei Monate nach der Wahl sind die Umfragewerte seiner Partei stetig rückläufig und liegen jetzt hinter denen der AfD. ... Sollte Merz die Erwartungen, die er vor der Wahl beispielsweise auch beim Thema illegale Migration geweckt hatte, nicht erfüllen, würde er in den Augen seiner Wähler wohl auf jeden Fall verlieren. Ob es möglich ist, mit einer solchen Hypothek zu regieren, ist fraglich.“

Süddeutsche Zeitung (DE) /

Hoffentlich geschickter als Scholz

Die Herausforderungen sind immens, meint die Süddeutsche Zeitung:

„Friedrich Merz muss das Kunststück vollbringen, sich gegen geradezu aggressive Feindseligkeit der amerikanischen Regierung zu behaupten, wie sie sich in der Unterstützung der verfassungsfeindlichen AfD zeigt, und zugleich einen Bruch mit Washington zu verhüten. Wird ihm das besser glücken, als es Olaf Scholz gelungen wäre? Viel wird abhängen von Merz' Geschick nicht nur im Umgang mit Trump, sondern mit Deutschlands wichtigsten Partnern in Europa. ... Nur zusammen mit Frankreich und Polen und im Falle der Nato vor allem mit Großbritannien wird die amerikanische Lücke geschlossen werden können. ... Hier lag der blinde Fleck des scheidenden Kanzlers. Hier könnte Friedrich Merz tatsächlich einen großen Unterschied machen.“

Dnevnik (SI) /

Potenzieller Impulsgeber für die ganze EU

Dnevnik sieht in einer schwarz-roten Regierung eine große Chance für die EU:

„Wenn sich zwei Parteien mit so unterschiedlichen Weltanschauungen auf einen, wenn auch stellenweise recht lockeren, Koalitionsvertrag einigen können, sind sie in der Lage, Europa mit Hilfe eines großen Konsenses voranzubringen. Denn es geht längst nicht mehr nur um die exportorientierte deutsche Wirtschaft. Der Leitspruch des slowenischen Reformators Primož Trubar [1508-1586] 'stehen und bestehen' sollte sich von der reformorientierten Regierung Merz auch über die deutschen Grenzen hinaus ausbreiten und auf sicherheitspolitische, wirtschaftliche und grundlegende Reformen des Funktionierens der EU übertragen werden.“

Le Figaro (FR) /

Merz-Macron hat das Zeug zum Motor Europas

Trotz einiger Stolpersteine hofft Le Figaro auf frischen Wind in der deutsch-französischen Partnerschaft:

„Der neue Kanzler hat viele Zeichen der Annäherung an Paris gezeigt. … Doch auch die Differenzen werden nicht verschwinden: vor allem über das Mercosur-Abkommen, das Berlin zügig umsetzen will, oder über die zivile Nutzung der Kernenergie, die Frankreich besonders am Herzen liegt. Und wie immer wird Deutschland seine Interessen mit aller Kraft verteidigen. Doch Berlin und Paris haben wieder den Willen, eine gemeinsame Sprache und Kompromisse zu finden. Will das Duo Merz-Macron der Motor Europas sein, muss es über die bloße Symbolik hinausgehen und Polen mit ins Boot holen und gleichzeitig Mut und Ehrgeiz bei konkreten Projekten zeigen.“

Avgi (GR) /

Unsozialer und verstaubter Neoliberalismus

Die Wirtschaftspolitik des designierten Kanzlers sorgt Avgi:

„Viele befürchten, dass sich seine Ansichten als Alptraum für die unteren sozialen Schichten erweisen könnten. ... Die Besetzung der Ministerien seiner Partei verspricht nichts Gutes, denn sie zeigt, dass er an der überholten Theorie festhält, dass sich einige 'erfolgreiche Manager' als kompetente Politiker erweisen können. ... Der 'Pilot' Merz verspricht Höhenflüge, aber sowohl seine Phraseologie als auch die Auswahl seiner Mitarbeiter riechen nach neoliberalem Naphthalin und reuelosem Konservatismus. ...Deutschland zeigt, dass es bereit ist, kopfüber in überholte und widerlegte neoliberale Theorien des frühen 21. Jahrhunderts einzutauchen, als der Kapitalismus kraftvoll, erfinderisch und unaufhaltsam schien.“

Politiken (DK) /

Balanceakt deutscher Selbstfindung

Politiken hofft auf wohldosierte Führungsqualitäten:

„Vielleicht ist es an der Zeit, die deutsche Identität nicht nur negativ – als nicht-nazistisch, nicht-nationalistisch, nicht-steuernd – zu definieren, sondern als eine positive Verantwortung, die eher aus Ehrgeiz als aus Schuldgefühlen entsteht. Doch die Erfahrungen Europas mit großen Ländern, die versuchen, 'sich selbst zu finden', sind, gelinde gesagt, gemischt. Je mehr ein Land auf seiner eigenen Identität beharrt, desto weniger nimmt es die Ängste seiner Nachbarn wahr. Und das Paradox bleibt: Europa braucht deutsche Führung, aber nur, wenn diese auch weiterhin von Zweifeln geprägt bleibt. Friedrich Merz hat Deutschland eine neue Stimme gegeben. Jetzt muss er zeigen, dass er auch zuhören kann.“