Frankreich ohne Premier: Findet sich eine Lösung?

Frankreichs Führung gibt sich zuversichtlich, dass die Regierungskrise in Kürze gelöst werden kann. Der Élysée-Palast erklärte, bis Freitag Abend könne ein neuer Premier ernannt werden. Macron und der am Montag zurückgetretene Premierminister Sébastien Lecornu bemühen sich, die Sozialisten mit ins Boot zu holen. Diese fordern jedoch eine Rücknahme der umstrittenen Rentenreform.

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L'Humanité (FR) /

Abkehr von Rentenreform ebnet Weg aus der Krise

Endlich hört man in Paris auf die Linke, freut sich Laurent Mouloud, Chefredakteur von L’Humanité:

„Dieses macronistische Totem nun auf seinem Sockel wanken zu sehen, ist ein Sieg für die Linke und die Gewerkschaften. ... Was auch immer der Staatschef in den nächsten Stunden und Tagen beschließt, eines wird nunmehr klar: Keine Regierung kann darauf hoffen, die soziale und politische Krise zu befrieden, ohne diese Reform zu suspendieren oder aufzuheben und ohne die von den Franzosen bekräftigten Erwartungen in Sachen Steuergerechtigkeit, Kaufkraft und Kontrolle staatlicher Unternehmensförderung einzubeziehen. Jede andere Option wird darauf hinauslaufen, die festgefahrene Situation der untergehenden Macronie zu verlängern.“

Le Figaro (FR) /

Folgenschweres Zugeständnis

In Wirklichkeit geht es gar nicht um eine Lösung der Krise, wettert Le Figaro:

„Eine als Suspendierung getarnte Aufhebung [der Rentenreform] würde jährlich rund zehn Milliarden Euro kosten, ein irre hoher Preis für ein Geschenk an die Sozialisten, um deren Wohlwollen zu erhalten. ... Das wäre ein Wahnsinn, der nichts mit einem Kompromiss gemein hat, sondern einem Zugeständnis gleichkommt, in der Hoffnung, eine drohende zweite Parlamentsauflösung abzuwenden. Denn diese könnte bei ungünstigem Ausgang den Staatschef zum Rücktritt zwingen. Einige konservative LR-Abgeordnete sollen ebenfalls bereit sein, den faulen Trick zu akzeptieren – aus Angst, bei Neuwahlen ihren Sitz zu verlieren.“

The Irish Times (IE) /

Staatsfinanzen am Abgrund

Frankreich steuert auf einen Kompromisshaushalt zu, kann ihn sich aber eigentlich nicht leisten, konstatiert The Irish Times:

„In Wirklichkeit dürfte es sich dabei höchstens um eine Notlösung handeln. ... Wenn keine radikalen Reformen eingeführt werden, steuert das Land auf eine finanzielle Zerreißprobe zu. Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache. Das Haushaltsdefizit liegt bei über 5 Prozent des BIP und steigt weiter, während die Staatsverschuldung mit rund 3,3 Billionen Euro 114 Prozent des BIP ausmacht. Ein Kompromisshaushalt könnte lediglich Zeit gewinnen, während eine Neuwahl wahrscheinlich keine Regierung hervorbringen wird, die in der Lage ist, die Haushaltskrise wirksam zu bekämpfen.“

Irish Independent (IE) /

Ein blamierter RN als letztes Ass im Ärmel

Macron könnte auch das Parlament erneut auflösen und darauf setzen, dass sich Le Pens Partei dann selbst diskreditiert, so Irish Independent:

„Sollte der Rassemblement National (RN) in der neuen Nationalversammlung wieder stärkste politische Kraft werden, könnte Macron Jordan Bardella zu seinem Premierminister ernennen. ... Eine vom RN geführte Regierung wäre mit heftigem Widerstand, Weigerung zu Kompromissen und Konsensfindung, Unsicherheit in Bezug auf die Wirtschaft und Misstrauensvoten konfrontiert. Kurz gesagt: mit denselben Problemen, mit denen auch Macrons letzte Regierungen zu kämpfen hatten. Der Präsident könnte darauf spekulieren, dass der RN die Regierungsgeschäfte so chaotisch führen wird, dass niemand mit klarem Verstand bei den Präsidentschaftswahlen für ihn stimmen würde.“

Die Presse (AT) /

Hochmut kommt vor dem Fall

Die Presse fordert mehr Nüchternheit in der Politik:

„Eine weitere Lehre aus dem Frankreich-Chaos: Der Polittypus Macron – junger, hyperaktiver Mann mit radikaler Reformbotschaft und auf die eigene Person zugeschnittene Politik, 'Verschrotter' von Parteien und Systemen – ermüdet à la longue. Das bewiesen schon begeisterte und dynamische Reformer wie Matteo Renzi in Italien oder Tony Blair in Großbritannien. Sie scheiterten am Ikarus-Effekt, stolperten über Selbstüberschätzung. Und hinterließen viele Trümmer. ... Die Herausforderung für Europas gemäßigte Parteien ist es, zeitgemäße, überzeugende Alternativen zu präsentieren. ... Zu zeigen, dass ­Politik sehr wohl gestalten kann – vielleicht einfach durch gutes Management und mit weniger Eitelkeit.“

Le Temps (CH) /

Das Wahlvolk ist auch nicht ohne Makel

Paris-Korrespondent Paul Ackermann gibt in Le Temps auch den Wählern eine Mitschuld an der politischen Krise:

„Viel ist hier über Emmanuel Macrons Verantwortung gesprochen worden. ... Ebenso über die Verantwortungslosigkeit einer politischen Klasse und der Oppositionen, die weder nach Konsens suchen noch in einem Kompromiss etwas anders sehen können als eine Kompromittierung. ... Ich finde es jedoch auch interessant, heute die Frage nach der Verantwortung der Wähler – und damit der Franzosen selbst – in diesem Durcheinander zu stellen. Denn am Ende liefern die Politiker nur die Rhetorik, von der sie wissen, dass sie bei den nächsten Wahlen am meisten verfängt. Sie geben den Menschen, was diese verlangen: klare, unnachgiebige Positionen – oder schlicht pure Wut.“

Echo (RU) /

Jeder wäre hier gescheitert

Politologe Alexej Makarkin erklärt in einem von Echo übernommenen Telegram-Post das Debakel mit der Unvereinbarkeit der Positionen der Zentrumsparteien:

„Es gelang dem Premierminister nicht, sich mit den Sozialisten zu einigen und eine Regierung auf einer breiten zentristischen Basis – vom linken bis zum rechten Zentrum – zu bilden. Und das ist kein Zufall, denn eine Einigung mit den Sozialisten hätte zu einem Bruch mit den Republikanern geführt. ... Je näher die Präsidentschaftswahlen rücken, desto mehr beharren die Parteien mit Blick auf ihre Wählerschaft auf ihrer Identität. Was Mitte-Rechts für 'Wahnsinn' hält, bedeutet für Mitte-Links die Norm. Nicht nur Lecornu, auch jeder andere Politiker hätte die Prioritäten der Sozialisten und Republikaner nicht unter einen Hut bringen können.“

El País (ES) /

Linke sollte Regierungsversuch unternehmen

Welche Möglichkeiten es jetzt noch gibt, zählt El País auf:

„Emmanuel Macron, isolierter denn je, steht vor einem schwierigen Dilemma: Er kann an seiner Linie festhalten, auch wenn dies die Instabilität und damit die Spaltung zwischen Gesellschaft und politischer Klasse verschärft. Oder er erkennt endlich das Ergebnis der von ihm selbst angesetzten Wahlen an und sieht ein, dass die Linke die Legitimität besitzt, zumindest einen Regierungsversuch zu unternehmen. Oder er löst erneut das Parlament auf mit dem Risiko, den RN [Rassemblement National] zu stärken, um danach in der gleichen Sackgasse zu stecken. Diese Option ist insofern wahrscheinlich, da er Lecornu zuletzt 48 Stunden Zeit gegeben hatte, um Verhandlungen aufzunehmen, und erklärt hatte, dass er im Falle eines Scheiterns seine Verantwortung übernehmen werde.“

Le Figaro (FR) /

Jetzt Rückkehr an die Urnen

Le Figaro fordert, der Realität endlich ins Auge zu sehen:

„Anstatt weiter das Karussell der Postenverteilungen zu drehen, an Absprachen zur Vermeidung von Misstrauensvoten zu basteln oder angebliche 'Wege' zu beschreiten, die eine Regierungsstabilität versprechen sollen, muss man sich der Realität stellen: Wir sind am Ende einer Illusion angelangt, die seit Juli 2024 aufrechterhalten wurde – der Illusion von Parteien, die die Wahlen verloren haben und sich dennoch das Recht herausnehmen, mit der Arroganz erdrückender Mehrheiten zu regieren. Doch man darf sich nicht im Schuldigen irren. ... Dieses große Durcheinander, diese verwirrende Lage, führt uns zurück zu dem, der kraft der Fünften Republik so viel Macht wie Verantwortung trägt: dem Staatspräsidenten. Nur er hält den Schlüssel in der Hand: die Rückkehr an die Urnen.“

Frankfurter Allgemeine Zeitung (DE) /

Warnsignal von den Finanzmärkten

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung sorgt sich um Frankreichs wirtschaftliche Stabilität:

„Man wird den Eindruck nicht los, dass zu viele Leute in Paris auf Neuwahlen schielen statt sich der ernsten Probleme des Landes anzunehmen. Diese sind bekannt und werden durch Vertagung nicht einfacher zu lösen. Auch am Montag haben die Finanzmärkte die Politik an deren Haushaltsprobleme erinnert. Wenn die zweitgrößte Volkswirtschaft der EU und des Euroraums schlechter bewertet wird als Griechenland oder Italien, dann ist das ein Warnsignal. ... In der Eurokrise hatte Europa zu lernen, dass Reformen im Zweifel von den Märkten erzwungen werden. Diese Erfahrung sollte man sich in Paris besser ersparen, auch im Interesse der Partner. ... Regulär würde in Frankreich wieder 2027 gewählt. Kaum vorstellbar, dass es bis dahin so weitergeht wie bisher.“

Corriere della Sera (IT) /

Einsamer Präsident

Wie sehr die Franzosen mittlerweile mit ihrem Präsidenten fremdeln, beschreibt Corriere della Sera:

„'Ich verstehe ihn nicht mehr', sagte [Ex-Premier] Gabriel Attal. ... Wie Attal verstehen viele, die an Macron geglaubt haben, ihn nicht mehr: Sie verstehen nicht, warum er [im Juni 2024] plötzlich die Nationalversammlung auflöste, warum er einen alten Herrn wie Barnier zum Premierminister ernannte, dann einen weiteren alten Herrn wie Bayrou und schließlich den jungen Lecornu, der jedoch den unüberwindbaren Makel hatte, der letzte der treuen Macron-Anhänger zu sein, während mittlerweile alles, was mit Macron in Verbindung gebracht wird, bei den Bürgern und fast der gesamten politischen Klasse, unbeliebt ist.“