Gedenken in Novi Sad: Was steht auf dem Spiel?
Ein Jahr nach dem Einsturz des Vordachs am Bahnhof von Novi Sad haben dort am Samstag zehntausende Serben der 16 Opfer gedacht. Zum Zeitpunkt des Unglücks um 11.52 Uhr legten die Teilnehmer 16 Schweigeminuten ein. Die Katastrophe am 1. November war Auslöser einer Welle von Massenprotesten gegen die Regierung Vučić.
Es geht weder vorwärts noch zurück
Präsident Vučić klammert sich – vorerst mit Erfolg – an die Macht, analysiert Večernji list:
„Die Studenten haben eine Sturzflut hervorgerufen, die nun alles vor sich hertreibt: ... Doch noch ist nichts zu Ende, auch das Regime von Vučić nicht. Man erwartete einen gewaltsamen Umsturz, einen Rücktritt des Diktators, man drohte mit Bürgerkrieg, doch nichts davon ist geschehen, nicht einmal Neuwahlen, die der Diktator nicht ausschreiben will, da er sie selbst mit Hilfe seiner mafiösen Strukturen und dem kriminellen Staatsapparat nicht gewinnen würde. Serbien lebt in einer elenden Atmosphäre politischer Ungewissheit weiter. Es gibt kein Zurück, aber auch das Vorwärts lässt auf sich warten.“
Nationalistisches Denken bestimmt den Ton
Bei den Protesten gegen die serbische Regierung fehlt es an einem eindeutigen Bekenntnis zu europäischen Werten, stellt Jutarnji list fest:
„Obwohl ein Teil der Studenten und Demonstranten zweifellos ein europäisches Serbien will, ist dies nicht das, was die Gegner von Vučić's Regime antreibt. Bei den Protesten gegen Vučić wurde vom Rednerpult eine 'Rückkehr des Kosovo und Metochiens' gefordert, der Westen angeklagt, die 'serbische Welt' beschworen. ... Nach 365 Tagen gibt es bei diesen Demonstrationen immer noch keine Flaggen der EU oder Anzeichen für eine Veränderung der nationalistischen Politik, von der Serbien seit dem Amtsantritt von Slobodan Milošević noch immer besessen ist. Vieles deutet darauf hin, dass die Demonstranten in Serbien alles verändern wollen, aber so, dass alles gleich bleibt.“
Zahlen sind völlig unwichtig
Die Besessenheit, mit der über die Anzahl der Demonstranten bei der letzten Gedenkdemonstration in Serbien diskutiert wird, geht völlig am eigentlichen Thema vorbei, meint Vreme:
„Eine große Versammlung, mächtig. Dann ist selbst Stille eindrucksvoll. Und als gesprochen wurde, wurde alles gesagt. Danach ging man nach Hause. Die sozialen Netze und ein Großteil der Medien fixieren sich auf das Falsche – wie viele Menschen kamen tatsächlich? Waren das viele oder wenige? ... Zahlen sind nicht mehr so wichtig. Der Kampf, dessen Auslöser der Tod unter Beton war, ist schon lange in eine andere Phase gekommen: die von Neuwahlen, an denen auch die Studenten als Wahlliste teilnehmen wollen.“
Vučić ist zu kategorisch
Die kremlnahe Iswestija kritisiert die serbische Führung für mangelnde Flexibilität im Umgang mit den Protesten:
„Es ist nicht verwunderlich, dass die Unruhen nicht abklingen. Der Grund dafür liegt im Wesentlichen darin, dass es den Behörden und dem Präsidenten persönlich nicht gelungen ist, den richtigen Umgang mit den Demonstranten zu finden. Die Regierung ist der Ansicht, dass hinter der Organisation der Proteste ausschließlich externe Kräfte stehen, die in Serbien eine Farbrevolution anzetteln wollen. Aleksandar Vučić hat wiederholt betont, dass die Situation im Land an den Maidan 2014 in der Ukraine erinnere, und versprochen, ein solches Szenario nicht zuzulassen. Es scheint, dass in diesem Ansatz der Hauptfehler der Behörden liegt: in ihrer übertriebenen Entschiedenheit.“
EU-Gelder nur gegen Reformen
Europa darf sich nicht länger wegducken, fordert Der Spiegel:
„Serbiens Studierende kämpfen für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und politischen Pluralismus. Wenn es Europa mit einer Beitrittsperspektive für Serbien ernst meint, muss es die Anliegen der Studierenden unterstützen, anstatt Vučić wegen Serbiens Lithiumvorkommens oder der Angst, dass er das Land noch näher an Russland heranführt, zu hofieren. ... Europa kann ... Vučić konkret unter Druck setzen, den prodemokratischen Rufen der Demonstrierenden zuzuhören. Das geht mit klarer Konditionalität: Gelder, Darlehen und Handelsvorteile nur gegen überprüfbare Reformen und die Einhaltung demokratischer Prinzipien.“