Fußball-EM: Wer überzeugt, wer enttäuscht?

Zwei Wochen nach ihrem Beginn am 11. Juni geht die Fußball-Europameisterschaft in die KO-Phase. Wegen Corona sind in den meisten Stadien nur wenige Zuschauer erlaubt, und gemeinsames Schauen in Bars oder Freiluftkinos ist ebenfalls sehr begrenzt. In Europas Presse ist dafür um so mehr Platz für große Gefühle, pathetisches Lob und vernichtende Kritik.

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Wsgljad (RU) /

Der reinste Masochismus

Journalist Ilja Peresedow plädiert in Wsgljad nach dem russischen EM-Fiasko dafür, Fußballbegeisterung als schädliches Suchtverhalten zu klassifizieren:

„Was ist das für eine Freude, Jahr für Jahr Scham, Erniedrigung und Schande für die Niederlagen des eigenen Teams (und überhaupt aller russischer Mannschaften in internationalen Wettbewerben) zu empfinden? Haben Sie die BDSM-Spiele nicht satt, bei denen Sie niemals der dominante Part sind, sondern regelmäßig pervers rangenommen werden? Meiner Meinung als Nicht-Fan nach ist Fußballbegeisterung in Russland zu einer landesweiten schlechten Angewohnheit geworden, vergleichbar mit Rauchen, Alkoholismus und Fresssucht. ... Russland hat zu diesem Sport eine destruktive und selbstzerstörerische Beziehung.“

Berlingske (DK) /

Nationalgefühle der feinsten Form

Berlingske lobt die dänische Mannschaft dafür, beim Patriotismus die richtigen Saiten anzuschlagen:

„Wir sind an das Beste am Nationalgefühl erinnert worden. ... Die nationale Gemeinschaft ist nicht allein nur ein moralischer Imperativ, sie hat sich auch historisch als der stärkste Rahmen für die Demokratie erwiesen. Die nationale Gemeinschaft ermutigt uns, die Gesetze einzuhalten, unsere Steuern zu zahlen, Minderheiten zu respektieren und zuzustimmen, demokratische Wahlen zu verlieren. Wir wissen auch, dass Nationalismus in bösartiger Form existiert, und daher lohnt es sich, die schönen Werte zu würdigen, die die dänische Nationalmannschaft erlebbar gemacht hat.“

Verslo žinios (LT) /

Kein Tor, kein Stadion, keine Ambition

Die Wirtschaftszeitung Verslo žinios blickt neidisch auf die qualifizierten Mannschaften:

„Wenn in Europas Stadien die Leidenschaft brennt, ist es Zeit, leider festzustellen, dass Litauen noch nie so weit von einer EM entfernt war wie jetzt. ... Es gibt den ewigen Streit: Henne oder Ei – was war zuerst da? Können wir nicht Fußball spielen, weil wir keine guten Stadien haben, oder haben wir keine guten Stadien, weil wir nicht Fußball spielen können? Wir als Verslo žinios, die sich von ganzem Herzen wünscht, Litauens Fahne mal an einer EM-Endrunde zu sehen, raten: Eine neue Strategie muss viel ambitionierter sein. Solange keine Siege in Sicht sind, wird der nächste Anlass, sich an den litauischen Fußball zu erinnern, erst 2023 sein. Dann wird Litauen den 100. Jahrestag des ersten Fußballspiels seiner Nationalmannschaft feiern.“

La Libre Belgique (BE) /

An die Arbeit!

Von der Leistungsbereitschaft der Profis sollten wir uns alle eine Scheibe abschneiden, findet der Managementberater Antoine Henry de Frahan in La Libre Belgique:

„Im Fußball steht der Leistungswille über allem anderen. Wer wagt es im Zeitalter der zur Religion gewordenen Wellness noch, außerhalb des Sports von Wettbewerb, Talentvergleich, vom Willen zum Sieg, von Entschlossenheit, von unerbittlicher Anstrengung, von kompromissloser Disziplin, von der Auswahl der Besten, von Mut und Aufopferung und vom Rausch des Sieges zu sprechen? Werden wir uns dieser Kluft zwischen der Höchstleistung anderer, die uns verzaubert, und unserer eigenen Mittelmäßigkeit bewusst. Nutzen wir das als Erinnerung, als Aufforderung, aufzustehen, an die Arbeit zu gehen, unser Spiel zu steigern und unser Bestes zu geben. Unsere eigene Leistung wird wahre Begeisterung in uns entflammen.“

Helsingin Sanomat (FI) /

Auch ohne Finale einfach gut

Finnlands Chancen auf ein Weiterkommen sind zwar gering, aber der finnische Fußball hat schon jetzt enorm von der Teilnahme an der EM profitiert, konstatiert Helsingin Sanomat:

„Was blieb von dem Turnier außer dem Sieg gegen Dänemark, falls Finnland aus dem Turnier ausscheidet? Die Uhus [Spitzname der Nationalmannschaft] wurden Teil der europäischen Fußballfamilie. Die EM-Teilnahme bescherte Finnland zwei unvergessliche Wochen Fußballrausch. Der größte Sieg ist jedoch der Eindruck, den die Uhus auf die Finnen und ausländische Zuschauer gemacht haben. ... Es ist einfach eine gute Mannschaft, mit guten Menschen, die für gute Dinge eintreten. Ein besseres Vorbild kann es für künftige Stars auf dem Bolzplatz weder in diesem Sommer noch in Zukunft geben.“

Times of Malta (MT) /

Italienische Titelträume

Restlos begeistert von den bisher gezeigten Leistungen der Squadra Azzurra ist Kolumnist James Calvert in Times of Malta:

„Ich beobachte das italienische Team seit 40 Jahren und kann mich nicht erinnern, sie jemals so spielen gesehen zu haben. Noch nie zuvor hatten sie in einem EM-Spiel mehr als zwei Tore geschossen. Diesmal erzielten sie gleich in ihren ersten beiden Spielen jeweils drei Tore - und qualifizierten sich damit mit atemberaubender Geschwindigkeit. Italiens Spieler sehen hungrig und energiegeladen aus. Außerdem wirken sie entschlossen, den Titel gewinnen zu wollen. Das ist eine wirklich unglaubliche Veränderung im Vergleich zu jenen italienischen Mannschaften, die früher ein Tor erzielten und dann 89 Minuten lang verteidigten.“

Habertürk (TR) /

Türkei ist nur Meister der Trainerhonorare

Die türkische Nationalmannschaft ist am Sonntag mit null Punkten in der Vorrunde aus der Fußball-EM-Turnier ausgeschieden. Habertürk mokiert sich über den reichlich entlohnten Trainer:

„Wir wissen, dass türkische Trainer - insbesondere unser Nationaltrainer Şenol Güneş, der 30 Millionen Lira [2,88 Millionen Euro] pro Jahr einsackt und dafür sorgte, dass wir mit null Punkten aus der EM-Vorrunde zurückgekehrt sind - im Ausland nicht präsent sind und in ausländischen Mannschaften nie eine Anstellung finden, aber extrem viel Geld verdienen. ... Unsere Clubs sind pleite und verschuldet, aber unsere Trainer, die keinerlei internationalen Erfolg vorweisen können, sind reich. In einer Liga von der Größe nur eines knappen Fünftels der italienischen Liga verdienen Trainer mehr Geld, als ihre italienischen Kollegen.“