Wie tickt Russland nach zehn Monaten Krieg?

Fast zehn Monate nach Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine sind weder eine diplomatische Lösung noch ein eindeutiger militärischer Ausgang des Konflikts in Sicht. Beobachter fragen sich, was der Krieg für Stimmung und Einstellung der Menschen in Russland bedeutet.

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Andrej Loschak (RU) /

Ein Land in suizidaler Massenpsychose

Der ins Exil gegangene Dokumentarfilmer Andrej Loschak sieht auf Facebook Russland in Chaos und Wahnsinn untergehen:

„Ich betrachte die Ereignisse zu Hause jetzt auf andere Art: Russland ist eine Art gruseliger Reality-Show, in der sich Millionen Menschen im Zustand der Massenpsychose um einen verrückten Sektenführer versammelt und ihren kollektiven Selbstmord beschlossen haben (wobei versucht wird, so viele Menschen wie möglich, vorzugsweise die gesamte Menschheit, mit ins Inferno zu reißen). ... Ein Wahn solchen Ausmaßes lässt sich nicht mehr stoppen. Das ist nun Sache ausländischer Armeen und Regierungen - während uns nur bleibt, den weiteren Sturz in die Finsternis zu beobachten und zu dokumentieren.“

Cholod (RU) /

Die Seelen sind ausgebrannt

Die Soziologin Ljubow Borusjak befragte 1.300 in Russland gebliebene Kriegsgegner - und konstatiert ihnen in Cholod eine frustriert-phlegmatische Verfassung:

„Einer der Hauptgründe für diesen schweren Zustand ist das Verschwinden des Planungshorizonts. Die Menschen wissen nicht, was als nächstes mit ihnen geschehen wird. ... Sie nehmen jedwede Entwicklung hin - auch das ist ein Zeichen von Müdigkeit. Vor dem 24. Februar glaubten nur wenige an die Möglichkeit von Kriegshandlungen; eine Mobilmachung wurde zwar für möglich gehalten, aber eher theoretisch. Jetzt kam die harte Erkenntnis: Es ist einfach alles möglich. Wenn man die Menschen nach ihren Emotionen fragt, sagen sie meistens, dass sie keine starken Gefühle mehr empfinden, dass alles in ihrer Seele ausgebrannt ist und sie sich über nichts mehr aufregen können.“

SonntagsZeitung (CH) /

Krieg um jeden Preis

Wladimir Putin setzt auf größtmöglichen Schaden, meint die SonntagsZeitung:

„Am 10. Oktober, am 17. Oktober, am 31. Oktober, am 15. November, am 23. November, am 5. Dezember und am 16. Dezember schickte [General] Surowikin bereits viele Raketen in die Ukraine los, und er wird es wieder tun. Putin ist gewillt, den Krieg weiter um jeden Preis zu führen. Um [sic, auf] 143 Milliarden Dollar erhöhte er letzte Woche das Budget für den Krieg. Auch wenn Putin damit den Sieg nicht herbeizwingen kann, ins Armenhaus bombt er die Ukraine allemal. Wir werden noch viele hungernde und frierende Menschen sehen, nicht nur jetzt, sondern wohl noch viele Jahre lang.“