80 Jahre Kriegsende: Missbrauch des Gedenkens?

In ganz Europa wird in dieser Woche des Weltkriegsendes und der Befreiung vom Nationalsozialismus gedacht. Wie üblich feiert Russland mit einer großen Militärparade am 9. Mai den Sieg über Hitler-Deutschland. Die Bemühungen des Kremls, seinen aktuellen Angriffskrieg in der Ukraine in diesen historischen Zusammenhang zu stellen, stoßen auf Widerspruch in Europas Presse.

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La Stampa (IT) /

Moskau beschwört alte Gespenster

La Stampa erschauert angesichts des in Russland zelebrierten Militarismus:

„Während die Propaganda des Regimes immer absurdere Ausmaße annimmt und Neugeborene in Entbindungsstationen mit Soldatenmützen und einem fünfzackigen roten Stern ausgestattet werden, scheint der Kreml fest entschlossen zu sein, den Zweiten Weltkrieg mit dem Krieg, den Russland jetzt gegen die Ukraine führt, zu überlagern. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow beschwört das Gespenst der Massenmobilisierung herauf, denn 'ein großes Land ist jederzeit bereit, sich zu erheben'. Putin wiederum verweist eindeutig auf den Feind, indem er von 'Panzern aus deutscher Produktion mit Kreuzen' spricht und von Vertretern 'besiegter Nationen, die uns unterjochen und uns etwas aufzwingen wollen'.“

Jutarnji list (HR) /

Praktizierter Revisionismus

Russland nutzt den Jahrestag, um eine verfälschte Version der Geschichte voranzutreiben, analysiert Jutarnji list:

„Das wahre Problem liegt darin, dass Russland den Sieg über den Nazismus zur Geschichtsfälschung nutzt. ... Denn man darf nicht vergessen, dass Hitler und Stalin am Anfang Verbündete waren, die Polen aufgeteilt und Zehntausende Polen massakriert haben. ... Und der Widerstand und spätere Sieg im Großen Vaterländischen Krieg gehört keinesfalls nur den Russen, sondern allen Völkern der Sowjetunion. Das zeigen die Zahlen: Von 26 Millionen Gefallenen waren sogar sechs Millionen aus der Ukraine. ... Kurzum, Putins Siegesfeier ist ein revisionistischer Vampirball, den man ignorieren sollte.“

Echo (RU) /

Durch Propaganda befleckt

Die Historikerin und Pädagogin Tamara Eidelman kritisiert in einem von Echo übernommenen Telegram-Post Putins Ansatz:

„Es ist völlig unmoralisch, das Bewusstsein der jungen Generation mit Gesprächen über Heldentum und Selbstaufopferung zu vergiften und das ganze noch mit Schmeicheleien darüber abzurunden, dass 'unsere heute in der militärischen Sonderoperation involvierten Soldaten die großen Traditionen ihrer Großväter und Urgroßväter weiterführen, indem sie mit Ehre und Heldenmut für die Gerechtigkeit kämpfen'. Dies nicht nur wegen der Befürwortung des heutigen Krieges, sondern auch, weil solch ein Gerede das Gedenken an diejenigen befleckt, die tatsächlich heldenhaft gegen die Faschisten gekämpft haben.“

NV (UA) /

Die anderen Sowjetnationen fallen unter den Tisch

Blogger Walerij Pekar kritisiert in NV:

„Russland versucht, diesen Feiertag zu vereinnahmen, um seine eigenen Ziele zu erreichen. In erster Linie, um Anerkennung und Ehrung als der Sieger im Zweiten Weltkrieg zu erhalten, dem die ganze Welt zu Dank verpflichtet ist, sowie um seine entscheidende Rolle im Sieg über den Nazismus und seine angeblich größten Verluste hervorzuheben. ... Der Kreml hat allen Grund, auf das erfolgreiche Erreichen seiner Ziele zu hoffen. Erstens ist der Westen seit Langem von der russischen Propaganda infiziert, der kaum etwas entgegengesetzt worden ist. Zweitens wird die Sowjetunion in den Köpfen der Amerikaner und Europäer mit Russland gleichgesetzt – die anderen Nationen [der UdSSR] nahmen sie nicht wahr.“

Le Monde (FR) /

Gegen die Spaltung der alten Allianz

In Le Monde appelliert eine Gruppe europäischer Historiker an die USA:

„Anlässlich des Jahrestags rufen wir das amerikanische Volk auf, die politischen Spaltungen zu überwinden, die von Moskau geschürt werden. ... Erinnern Sie sich an unsere Verbundenheit, die auf den Schlachtfeldern geschmiedet und durch achtzig Jahre Freundschaft und Bündnis gestärkt wurden. Man will uns mit Desinformation spalten, aber unser gemeinsames Engagement für Freiheit und Demokratie muss siegen. Vor allem appellieren wir an Sie, die Ukraine zu unterstützen. Wir hoffen, dass mit Hilfe der USA eine diplomatische Lösung gefunden werden kann.“