Endet die Solidarität mit geflüchteten Ukrainern?
In Polen ist ein Konflikt um Sozialleistungen für ukrainische Geflüchtete ausgebrochen. Präsident Karol Nawrocki legte Einspruch gegen das Ukraine-Hilfen-Gesetz der Regierung ein, das Unterstützung wie Kindergeld und Sozialhilfe bis März 2026 sichern soll. Kommentatoren sehen Symptome für eine schwindende Hilfsbereitschaft und Risiken für Europa.
Mythen über Sozialbetrug bestimmen die Politik
Betrug mit dem Erhalt unberechtigter Leistungen ist aktuell kein Problem mehr, gibt Krytyka Polityczna zu bedenken:
„Zum Missbrauch, also zum Bezug von Leistungen für Kinder, die sich gar nicht mehr in Polen aufhielten, kam es vor allem in den Jahren 2022 bis 2023. Seitdem ist es ein größeres Problem, dass Migrantinnen, die Polen für weniger als 30 Tage verlassen haben, aber nach ihrer Rückkehr kein Kindergeld mehr erhalten, monatelang im Sozialversicherungsamt (ZUS) um ihre Leistungen kämpfen müssen. Aber rationale Argumente bringen hier nicht weiter: Der Satz 'Wir helfen der Ukraine und den Ukrainern zu viel' ist bereits zum allgemeinen gesellschaftlichen Mythos geworden.“
Polen und Ukrainer sitzen im selben Boot
Die Ukrainer zu Gegnern zu erklären, hält Rzeczpospolita für unklug:
„Polen braucht schon heute ukrainische Arbeitskräfte, und morgen wird es sie noch dringender brauchen. Es braucht die Ukraine, die die Offensive der russischen Armee aufhält, und in drei bis fünf Jahren wird es sie noch dringender brauchen. Selbst wenn unsere Interessen in vielen Fragen auseinandergehen, werden wir in strategischen Fragen in den kommenden Jahrzehnten aufeinander angewiesen sein. Es sei denn, die Ukraine fällt in die Hände antiwestlicher Oligarchen und teilt das Schicksal von Belarus, indem sie zu einer ebenso großen Bedrohung wird wie das Vasallen-Regime von Alexander Lukaschenka. Für uns ist es besser, in der Ukraine einen Verbündeten und Freund zu haben.“
Geflüchtete zahlen mehr ein, als sie bekommen
Die Wirtschaftszahlen sprechen dafür, die Ukrainer weiter zu unterstützen, schreibt Journalist und Parlamentsabgeordneter Mykola Knjaschyzkyj (Partei Europäische Solidarität) in einem von Espreso übernommenen Facebook-Post:
„Laut Statistik haben 70 Prozent der ukrainischen Geflüchteten im erwerbsfähigen Alter in Polen eine Arbeit, davon sind 90 Prozent Frauen. Ihr Beitrag zum BIP Polens beträgt 2,7 Prozent, und sie zahlen jährlich über 15 Milliarden Złoty [rund 3,5 Milliarden Euro] an Steuern in den Staatshaushalt. Gleichzeitig betragen die Kindergeldzahlungen von 800 Złoty pro Kind für ukrainische Geflüchtete insgesamt lediglich 2,4 Milliarden Złoty [rund 560 Millionen Euro]. Die Ukrainer tragen also deutlich mehr zur polnischen Staatskasse bei, als sie daraus erhalten.“
Sündenböcke der Systemkrise
Wo der Staat versagt, wird oft Fremden die Schuld in die Schuhe geschoben, meint NV:
„Ziemlich oft ist es die Ineffizienz der Innenpolitik in den Bereichen Bildung, Gesundheitswesen und Rentenversorgung, die eine Suche nach Schuldigen auslöst – und diese Schuldigen werden dann in den Migranten gefunden. Dazu trägt auch das traditionell niedrige Vertrauen der Bürger in mittel- und osteuropäischen Staaten in die Institutionen des Staates bei. Denn wenn die Politik im eigenen Land schlecht funktioniert, wendet man sich mit diesen Fragen – sofern das Vertrauen in den Staat vorhanden ist – an den Staat; fehlt dieses Vertrauen, sucht man nach jemandem, der 'in den Brunnen gespuckt' hat. ... Migranten sind dabei stets ein leichtes Ziel, weil sie fremd sind.“
Russland reibt sich die Hände
Hospodářské noviny konstatiert:
„Der innenpolitische Streit zwischen dem neuen polnischen Präsidenten Karol Nawrocki und der Regierung von Premier Donald Tusk hat die Situation von einer Million ukrainischen Kriegsflüchtlingen im Land verschärft. Nawrocki weigerte sich, eine Gesetzesänderung zu unterzeichnen, die ihren Schutz erweitert, ihnen Zugang zum Arbeitsmarkt und soziale Unterstützung ermöglicht. ... Die Unsicherheit könnte der organisierten Kriminalität mehr Möglichkeiten eröffnen, Flüchtlinge auszubeuten, und sich auch auf die Situation der Ukrainer in den Nachbarländern auswirken. Die russische Propaganda hat bereits begonnen, das Problem auszunutzen und greift historische Themen auf, die Polen und Ukrainer spalten.“