Russische Kampfjets über Estland: Wie reagieren?

Drei russische Kampfflugzeuge sollen am Freitag Estlands Luftraum verletzt haben. Maschinen vom Typ MIG-31 hätten sich zwölf Minuten dort aufgehalten, erklärte das estnische Außenministerium. Tallinn beantragte Beratungen nach Artikel 4 des Nato-Vertrages. Russland bestritt die Luftraumverletzung. Kommentatoren debattieren mögliche Motive und Folgen.

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Glavkom (UA) /

Nato-Ostgrenze abgecheckt

Die russischen Kampfjets sollten die Bereitschaft der Nato-Luftverteidigung ausloten, schreibt der Analyst für Sicherheitsfragen, Mychajlo Hontschar, in einem von Glavkom übernommenen Facebook-Post:

„Die Aktion hatte das Ziel, die Reaktion der Luftverteidigungssysteme der Nato-Staaten im Gebiet des Finnischen Meerbusens detailliert zu testen: Welche Radaranlagen in Estland sowie in den benachbarten baltischen Staaten und Polen, Finnland und Schweden aktiviert würden; welche Flugzeuge von welchen Flugplätzen im Alarmfall starten würden und mit welcher Verzögerung sie zur Abfangoperation aufbrechen würden. Zumal die Nato kurz davor die Operation Eastern Sentry ins Leben gerufen und damit zusätzliche Kräfte und Mittel an die Ostflanke verlegt hatte, nachdem russische Drohnen in den polnischen Luftraum eingedrungen waren.“

Ta Nea (GR) /

Moskau setzt auf Spaltung des Westens

Die Geschäftsführerin des universitären Instituts für Internationale Beziehungen (IDIS), Ino Afentouli, erläutert in Ta Nea die Motive Russlands:

„Es weiß, dass die USA die Hauptlast der Unterstützung für die Ukraine auf die europäischen Länder abgewälzt haben. Es weiß außerdem, dass es in der Nato wie auch in der EU keine Einigkeit über die Bewilligung dieser Unterstützung gibt, da sich mindestens zwei ihrer Mitgliedstaaten – Ungarn und die Slowakei – dagegenstellen. Sollte also der gefürchtete Moment der Aktivierung von Artikel 5 kommen, besteht die (wenn auch geringe) Möglichkeit, dass nicht die Einstimmigkeit erreicht wird, die für seine Aktivierung erforderlich ist. Das wäre ein katastrophales Szenario für Europa, da es den Weg zur Spaltung der Nato ebnen würde – aber zugleich das ideale Szenario für Putin.“

taz, die tageszeitung (DE) /

Die Türkei hat es vorgemacht

Für die Frage, wie die Nato reagieren sollte, empfiehlt die taz einen Blick in die Vergangenheit:

„Vor fast genau zehn Jahren, am 30. September 2015, startete Russland seine brutale Militärintervention in Syrien zur Rettung der Assad-Diktatur. Am 24. November 2015 durchquerte ein russischer Bomber im Einsatz 17 Sekunden lang den Luftraum des Nato-Mitglieds Türkei – und wurde abgeschossen. Russland schimpfte fürchterlich und verhängte Sanktionen, aber es dauerte nicht lange, und nach einigen Muskelspielen und Höflichkeiten vereinbarten die beiden Autokraten Erdoğan und ­Putin die Aufteilung ihrer Einflusssphären in Syrien. Und bis heute nimmt Russland die Türkei ernster als jedes westliche Land.“

Libertatea (RO) /

Mehrheit wünscht sich absolute Vorsicht

Die Diskussion um russische Drohnen, die immer wieder auch den rumänischen Luftraum verletzen, hält Kommentator Costi Rogozanu in Libertatea für zu aufgeheizt:

„Wer bezahlt all die Kommentatoren, die in den Medien auftreten und erklären, dass wir im Vergleich zu den polnischen Helden, die die Drohnen abgeschossen haben, Schwächlinge sind? … Wer sind diejenigen, die nicht aufhören, davon zu träumen, dass wir die Russen besiegen? ... Hier gibt es ein deutliches 'wir' – eine Mehrheit der Bevölkerung, die sich bei all diesen Auseinandersetzungen in der Region maximale Vorsicht und Weisheit wünscht. Und ein 'sie', die unsere Fernsehprogramme füllen und uns um jeden Preis in den Krieg treiben wollen.“

Nowaja Gaseta Ewropa (RU) /

Putin kann nicht mehr ohne den Krieg

Putin braucht die militärische Konfrontation mit dem Westen, um seine Macht im eigenen Land zu erhalten, glaubt Chefredakteur Kirill Martynow in Nowaja Gazeta Ewropa:

„Die Militarisierung der Gesellschaft ist sowohl hinsichtlich der Steigerung der Kriegsausgaben als auch hinsichtlich der Erwartungen des Kerns der Kriegsanhänger, die Geld und sozialen Status im Austausch für ihre Bereitschaft zu Kriegsverbrechen erhalten, gefährlich weit gegangen. Der Grund für die Ausweitung der Aggression auf Drittländer könnte nicht nur Putins Überzeugung sein, dass er siegen wird, sondern auch seine Angst vor einer Rückkehr Russlands ins friedliche Leben. Einen Krieg beginnende Diktatoren bedenken selten, dass dieser ihr Regime zerstören könnte. Aber um ihre Macht zu erhalten, müssen sie die Aggression fortsetzen.“