Brexit-Blockade: May und Corbyn suchen Kompromiss

Theresa May hat die EU um einen Brexit-Aufschub bis zum 30. Juni gebeten. Das Unterhaus hatte zuvor ein Gesetz gebilligt, das die Regierung zu einem weiteren Aufschub verpflichtet. May will unterdessen mit Labour-Chef Corbyn eine Brexit-Variante erarbeiten, die Großbritannien wahrscheinlich wirtschaftlich enger an die EU bindet als der bisherige Vorschlag. Welche Optionen liegen noch auf dem Tisch?

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Süddeutsche Zeitung (DE) /

Nur May kann die Notbremse ziehen

Dass das Unterhaus ein Gesetz verabschiedet hat, das einen ungeordneten EU-Ausstieg verhindern soll, stellt für die Süddeutsche Zeitung eine kleine Sensation dar:

„Es gab eine Mehrheit für etwas. Sie kam gegen den Willen der Regierung zustande, was seit Menschengedenken nicht vorgekommen ist. ... Der Austritt Großbritanniens ohne politischen Plan, also ohne Vorstellung über die künftigen Beziehungen zur EU, ist demnach nicht mehr möglich. Faktisch aber bleiben Premierministerin Theresa May nun drei Varianten: Entweder sie schafft mit Labours Hilfe den rechtlich sauberen Austritt bis 22. Mai, oder sie bittet in Brüssel um erneute Fristverlängerung - muss dann aber EU-Wahlen abhalten. Oder sie stoppt das Austrittsverfahren insgesamt. Diese Variante sollte man nicht abtun. May alleine kann den Artikel-50-Prozess stoppen. Mit ihrer Unterschrift.“

HuffPost Italia (IT) /

Britische Teilnahme an EU-Wahl wäre verheerend

Die Teilnahme Großbritanniens an der Europawahl wäre ein katastrophales Szenario, betont Barbara Serra, Leiterin der Londoner Redaktion von Al Jazeera, in Huffington Post Italia:

„Die Prämisse war, nicht an der Wahl teilzunehmen. Doch nun könnte eine Verlängerung für Großbritannien genau das bedeuten. ... Das wäre eine Katastrophe für beide Seiten. Nigel Farage, der geistige Vater des Brexit, hat bereits angekündigt, er werde die Massen mobilisieren und Dutzende von wütenden Brexit-Anhängern in das EU-Parlament schicken. Da man ohnehin mit einer Welle von Populisten, Nationalisten und Souveränisten aus ganz Europa rechnen muss, ist die Vorstellung mehr als beunruhigend, dass sich ein Haufen verbitterter britischer Abgeordneter zu ihnen gesellt.“

Times of Malta (MT) /

Brexit freut die Steuervermeider

Warum der EU-Austritt Großbritanniens den Superreichen nützen wird, erklärt Kolumnist Rodolfo Ragonesi in The Times of Malta:

„Wenn ich ein britischer oder europäischer Milliardär wäre, der seine Schätze in den britischen Überseegebieten versteckt, käme mir der EU-Austritt Großbritanniens sehr gelegen. Meine Reichtümer wären dort, auf der anderen Seite des Ärmelkanals und in der Karibik, in sicherer Entfernung von EU-Steuer-Regulierungsbehörden. ... Der Verlust dieses Steuerparadieses wäre für Milliardäre eine Katastrophe. Sie werden sich daher einen Dreck darum scheren, wie es Großbritannien außerhalb Europas ergehen wird. Solange sie ihren Unterschlupf in den Überseegebieten behalten können, um ihre versteckten Schätze zu horten und Gerichts- und Anklagebehörden fernzubleiben, werden sie zufrieden sein.“

The Spectator (GB) /

Ganz oder gar nicht

Jegliche Kompromisslösung beim Brexit ist langfristig nicht im Interesse Großbritanniens, meint The Spectator:

„Beide Extrempositionen beim Brexit ergeben einen Sinn: Das ist auf der einen Seite die Rücknahme des Austrittsantrags und ein Verbleib in der EU zu den bestehenden Bedingungen. Auf der anderen Seite des Spektrums befindet sich der EU-Austritt ohne Abkommen, bei dem wir den Binnenmarkt und die Zollunion verlassen. ... Was hingegen keinen Sinn ergibt, ist eine Option, die zwischen diesen beiden Extremen liegt. Die 57 Varianten eines weichen Brexit, die zur Wahl stehen, haben allesamt ein gemeinsames Problem: Sie würden uns mehr oder weniger dem EU-Recht unterwerfen, ohne dass wir bei der Gestaltung der Regeln mitreden könnten.“

The Irish Times (IE) /

Bürger müssen mitbestimmen

Worauf auch immer sich die politische Klasse in London einigt, es sollte vom Volk bestätigt werden müssen, fordert The Irish Times:

„Entscheidend ist jetzt, dass jeglicher Kompromiss dem Volk zu einer zweiten Abstimmung vorgelegt wird - mit dem Verbleib in der EU als Alternativoption. In den vergangenen zwei Jahren waren es die progressiven Befürworter eines Verbleibs in der EU, die auf ein zweites Referendum gedrängt haben. Nun wirken alle realistischen Brexit-Szenarien derart weit von jenen Fantasievorstellungen entfernt, die den Brexit-Wählern verkauft wurden, dass diese entscheiden können sollten, ob ein Verbleib in der EU besser wäre. ... Um die katastrophalen Folgen des ersten Referendums abzuwenden, dem Lügen, Anmaßung und Gesetzesbruch zugrunde lagen, brauchen wir ein zweites - diesmal mit mehr Wahrheit.“

The Guardian (GB) /

Schwarzer Peter für Labour

Das Angebot der Regierungschefin ist unehrlich, unterstellt The Guardian:

„Theresa Mays Entschluss, in Sachen Brexit den Dialog mit der Opposition zu suchen, kommt Jahre zu spät. … Sie spricht von 'nationaler Einheit, um das nationale Interesse umzusetzen', doch ihr Angebot ist parteistrategisch im Sinne der Tories motiviert. Es gibt keinerlei Anzeichen, dass May in irgendeiner Weise kompromissbereit wäre. Ihrem Verhandlungsangebot liegt das von ihr ausgehandelte EU-Austrittsabkommen zugrunde, das vom Unterhaus bereits drei Mal abgelehnt wurde. Labour-Chef Jeremy Corbyn hat seine Partei per Fraktionszwang dazu angehalten, gegen Mays Deal zu stimmen. Nun müsste er zustimmen, das Abkommen zu unterstützen. Es drängt sich der Verdacht auf, dass May nicht den Ruhm teilen, sondern andere für ihr Scheitern mitverantwortlich machen will.“

NRC (NL) /

Inhaltlich möglich, politisch gefährlich

Ein Risiko für Labour-Führer Jeremy Corbyn erkennt NRC Handelsblad:

„Inhaltlich ist ein Abkommen möglich. Labour hat nie echte Einwände erhoben gegen das Scheidungsabkommen, das May ausgehandelt hat ... Aber Corbyn wird die politischen Interessen abwägen. Ein Teil seiner Wähler will keinen Brexit, ein anderer schon. Eine Zusammenarbeit mit May wird die Uneinigkeit bei Labour vergrößern. Wenn die Verhandlungen aber scheitern sollten und die Bürger bei kommenden Wahlen wütend sind über den möglichen wirtschaftlichen Schaden durch einen No-Deal-Brexit, könnte May beschuldigend mit dem Finger auf Corbyn weisen: Im Gegensatz zum großen Labour-Führer Attlee zu Beginn des Zweiten Weltkriegs hätte sich Corbyn der Verantwortung entzogen. Attlee wagte es damals, im Interesse des Landes mit Churchill und dessen Tories zusammenzuarbeiten.“

Neue Zürcher Zeitung (CH) /

May nimmt Spaltung der Tories in Kauf

Die Verhandlungen mit Labour könnten Großbritannien grundlegend ändern, beobachtet die Neue Zürcher Zeitung:

„Dieser Plan ist ... ein politischer Hochseilakt, und er könnte im äussersten Fall damit enden, dass die Parteienlandschaft in Grossbritannien in ein paar Jahren um einiges anders aussehen wird als heute. Dass Theresa May nun dazu bereit ist, zeigt vor allem, wie weit sie inzwischen in die Enge getrieben worden ist. Denn sie geht damit das für sie untypische, beträchtliche Risiko ein, dass es zu einer Spaltung der Konservativen Partei kommen könnte - der Partei, welche seit Jahrzehnten Mays politische Heimat ist. Die Zerreissprobe, der die Partei durch den Brexit ausgesetzt wurde, wird von May nun noch auf die Spitze getrieben.“

The Daily Telegraph (GB) /

Halsstarrige EU ist schuld

Dass Brüssel auf unannehmbaren Bedingungen beharrt, wirft The Daily Telegraph ein:

„Wenn die EU nicht diesen zutiefst zynischen Witz namens Backstop ausgeheckt hätte, hätte Großbritannien die EU am vergangenen Freitag verlassen, nicht nur mit einem Austrittsabkommen, sondern - wenn man sich vor Augen führt, wie viel Zeit wegen eines inexistenten Problems verschwendet wurde - möglicherweise auch mit einem Freihandelsabkommen. ... Brüssel hat sich mit Dublins Hilfe aufgemacht, das Ergebnis des britischen Brexit-Referendums zu hintertreiben. Die EU-Seite bestand in der Frage der irischen Grenze auf ihrem ultra-legalistischen Zugang. Sie drückte sich trotz unzähliger Zusicherungen von Experten davor, das zu tun, was der gesunde Menschenverstand gebot. Sie weigert sich, Kompromisse zu machen.“