30 Jahre deutsche Einheit - und jetzt?

Die Feierlichkeiten zum 30. Jubiläum der deutschen Einheit sind am Samstag wegen der Corona-Pandemie deutlich kleiner als geplant ausgefallen. "Wir leben heute in dem besten Deutschland, das es jemals gegeben hat", sagte Bundespräsident Steinmeier in Potsdam. "Weil wir es gemeinsam wollten, ist unser Land moderner und offener geworden." Kommentatoren teilen seine Euphorie nicht.

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wPolityce.pl (PL) /

Deutschland gibt wieder den Ton an

Das Onlineportal wPolityce.pl warnt vor einer Dominanz des wiedervereinigten Deutschlands in Europa:

„Die Fahnen sind andere, heute sehen sich die Deutschen als Vorbild der Demokratie und ihre Aufgabe in der Bekehrung zu einer linken Weltanschauung, dem Multikulturalismus. Doch wieder sind sie die Besten in dem, was sie für das Beste halten. Wieder wird alles der deutschen Wirtschaftskraft untergeordnet, allen voran mit antieuropäischen Vorhaben wie Nord Stream 1 und 2, ganz zu schweigen von EU-Vorgaben für einzelne Branchen und der europäischen Währung.“

The Economist (GB) /

Mehr Distanz zu Russland und China wahren

Eine außenpolitische Neuorientierung der Regierung in Berlin fordert The Economist:

„Deutschland ist in seiner Politik gegenüber Russland und China zu vorsichtig gewesen. Es tendierte dazu, kommerzielle vor geopolitische Interessen zu stellen. Der Bau von Nord Stream 2, einer Gaspipeline zwischen Russland und Deutschland, ist ein typisches Beispiel. Sie untergräbt die Interessen der Ukraine, Polens und der baltischen Staaten. Doch Angela Merkel hat sich trotz des empörenden Verhaltens von Russlands Präsident Wladimir Putin bis heute geweigert, das Projekt abzubrechen. Zudem hat sie jenen in ihrer eigenen Partei kaum Gehör geschenkt, die davor warnen, dass es zu riskant sei, dem chinesischen Unternehmen Huawei zu erlauben, Deutschland mit 5G-Telekommunikationsgeräten zu versorgen.“

El País (ES) /

Bisher war alles Zuckerschlecken

Die kommenden drei Jahrzehnte werden für Deutschland nicht so leicht wie die vergangenen, glaubt der Historiker Timothy Garton Ash in El País:

„In einer von Populismus, Fanatismus und Autoritarismus gebeutelten Welt ist die Bundesrepublik ein Vorbild für Stabilität, Bürgersinn und Mäßigung - Qualitäten, die Kanzlerin Angela Merkel auch persönlich verkörpert. Allerdings sind die nationalen und regionalen Herausforderungen, mit denen Deutschland in den vergangenen 30 Jahren umgehen musste, auch nichts im Vergleich zu den internationalen Problemen, die in den kommenden 30 Jahren auf das Land zukommen. Im Gegensatz zu anderen Demokratien, zu denen auch südliche EU-Mitglieder wie Griechenland und Spanien gehören, ist Deutschland noch nicht durch eine wirklich schwerwiegende Wirtschaftskrise auf die Probe gestellt worden.“

Der Tagesspiegel (DE) /

Besser den Tag der Vielfalt feiern

Bei den Feiern zur deutschen Einheit wird zu oft vergessen, wie ausschließend der Begriff der Nation ist, kritisiert Der Tagesspiegel:

„Auf deutsch kennt die Nation, ein Erbstück des 19. Jahrhunderts, Andere nämlich nicht als Zugehörige. Nichtweiße haben grundsätzlich kein Recht auf Clubausweise, auch wenn sie Goethe auswendig rezitieren können. Nur vor dieser Folie sind Hoyerswerda, Solingen, Mölln, die Pogrome nach 1990 zu verstehen. ... Weltweit lässt sich Politik - von Ungarn bis USA - immer öfter vom nationalen Phantasma bestimmen und regiert an der pluralen Wirklichkeit vorbei. ... Schön wär's, wir könnten am 3. Oktober 2030 den Tag der deutschen Vielfalt feiern. Und irgendwann statt der Vereinigten Staaten von Europa die Europäische Republik der vielen Einzelnen.“