Corona-Katastrophe in Indien: Gründe und Folgen

Indien ist das aktuelle Epizentrum der Pandemie. In den Krankenhäusern fehlen Betten, Medikamente und vor allem Sauerstoff, die Menschen sterben dort, zu Hause und auf der Straße. Inzwischen haben mehr als 40 Länder Hilfslieferungen zugesagt. Mitten in dieser Situation fanden in mehreren Bundesstaaten Wahlen statt. Beobachter erheben schwere Vorwürfe gegen die Regierung und mahnen, dass Hilfe das Gebot der Stunde ist.

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Corriere della Sera (IT) /

Fatale Massenveranstaltungen

Den mutmaßlichen Weg in die Katastrophe skizziert Corriere della Sera:

„Der lange Wahlkampf, der Ende Februar begann und vor wenigen Tagen endete, wird von Experten als einer der Gründe angesehen, warum Indien von der Illusion, zwischen Januar und Februar eine Herdenimmunität erreicht zu haben, zur heutigen katastrophalen Situation übergegangen ist. … Am 6. April zum Beispiel hörten 800.000 Menschen eine Rede von Premierminister Modi in Westbengalen, und nur die wenigsten trugen Masken. Aber auch große sportliche und religiöse Veranstaltungen waren verherrend, wie zum Beispiel das Kricketspiel zwischen Indien und England in Gujarat mit mehr als 130.000 Fans und das rituelle Bad im Ganges zum Fest Kumbh Mela, das vom 14. Januar bis zum 27. April dauern sollte, aber wegen der Pandemie zehn Tage früher abgebrochen wurde.“

The Times (GB) /

Eiskaltes Kalkül: Arme werden im Stich gelassen

Der Hindu-Nationalismus des indischen Premiers ist menschenverachtend, meint The Times:

„Dass die Verbreitung von Covid-19 Modi ziemlich kaltlässt, liegt daran, dass er den Angehörigen höherer Kasten mehr Wert beimisst. Diese werden die Krise relativ unbeschadet überstehen, während die Armen und Angehörigen niedriger Kasten mit wenig oder keiner medizinischen Hilfe selbst klarkommen müssen. ... Die Sichtweise ist, dass diese Menschen weder zur wirtschaftlichen noch zur geistigen Entwicklung des Landes beitragen und daher entbehrlich seien. Es könne sogar sein, dass diese das Land so stark belasten, dass es besser wäre, sie loszuwerden.“

Corriere del Ticino (CH) /

Soforthilfe aus gutem Grund

Die tragischen Zahlen aus Indien sollten uns alle beunruhigen, mahnt Corriere del Ticino:

„Wenn wir sie weiterhin mit dem distanzierten Mitgefühl erleben, das für Dramen reserviert ist, die uns nicht betreffen, werden wir zeigen, dass wir vieles von dem, was wir in den letzten fünfzehn Monaten erlebt haben, nicht verstanden haben. Die indischen Zahlen drohen auf Dauer auch die Zahlen des Westens zu konditionieren. Es ist also kein Zufall, dass der Westen, vielleicht zum ersten Mal seit Beginn dieser universellen Katastrophe, sich geschlossen zeigt und Indien Hilfsangebote macht.“

Le Temps (CH) /

Ein segregierter Planet

Die Corona-Krise bringt die globale Gesellschaft weiter in Schieflage, warnt Le Temps:

„Wenn Schwellenländer wie Indien und Brasilien derart hilflos da stehen, was wird dann aus noch schwächeren Staaten? ... Einige Zahlen zeigen, dass ein Zusammenbruch der Gesundheitssysteme, Wirtschaftskrisen und soziale Unruhen insbesondere neue Migrationsströme auslösen. … Langfristig darf die psychologische Gefahr einer zunehmenden Spaltung der Welt nicht unterschätzt werden. Wir, die wir geschützt innerhalb unserer Blase der entwickelten Länder leben und ein entsprechendes Weltbild haben, drohen die gemeinsamen Herausforderungen aus dem Blick zu verlieren. Denn wer auf dem durch das Virus segregierten Planeten wird noch die Notwendigkeit verspüren, gemeinsam die zentrale Herausforderung, den Klimawandel, anzupacken?“

Polityka (PL) /

Globale Bestellungen, globale Konsequenzen

Die internationale Impfkampagne wird durch die hohe Infektionsrate in Indien zurückgeworfen werden, befürchtet Polityka:

„Bald werden die Auswirkungen des Pandemieausbruchs am Ganges auch Bewohner anderer Länder zu spüren bekommen. Indische Fabriken sollen die meisten Impfdosen liefern, die im Rahmen des internationalen Covax-Programms verteilt werden. Es ist jedoch bereits klar, dass sich viele dieser Lieferungen verzögern werden. Zuerst müssen die Inder das Feuer in ihrem eigenen Haus löschen.“

Les Echos (FR) /

Weltapotheke hat ihren Trumpf verspielt

Die Lage diskreditiert den indischen Premier Narendra Modi, stellt Les Echos fest:

„Indien ist der weltweit größte Hersteller von Impfstoffen. Allein das Serum Institute of India kann 1,5 Milliarden Dosen pro Jahr produzieren, aber nur ein Prozent der eigenen Bevölkerung ist geimpft. Die 'Weltapotheke' hat es versäumt, ihren Trumpf auszuspielen. Selbst Narendra Modis Anhänger verstehen nicht, warum er nach der ersten Welle so umfassende Lockerungen zugelassen hat. Er hat Pilgerfahrten und Parteitreffen nicht nur nicht verhindert oder gar eingedämmt, er hat sie sogar initiiert und Ansammlungen von Millionen Menschen veranlasst. In seinem Land wird er kritisiert, aber er erregt auch internationales Misstrauen. Denn wenn Indien leidet, leidet auch der Rest der Welt.“