Schlittert Tunesien zurück in die Diktatur?

In Tunesien hat die islamistische Ennahdha-Partei Neuwahlen gefordert, nachdem Präsident Kais Saied überraschend den Regierungschef entlassen und die Arbeit des Parlaments ausgesetzt hatte. Vorangegangen waren Proteste in mehreren Städten gegen das Corona-Krisenmanagement. Kommentatoren machen düstere Aussichten für das ehemalige Vorzeigeland des Arabischen Frühlings aus.

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Contributors (RO) /

Umsturz nach Drehbuch

Die Geschehnisse in Tunesien sind Teil eines Plans, bemerkt Contributors:

„Vor zwei Monaten hatte die [in London ansässige Nachrichtenagentur] Middle East Eye ein streng geheimes Dokument veröffentlicht, das durchgesickert war und einen detaillierten Plan zur Organisation und Durchführung eines Staatsstreiches in Tunesien enthielt. Das Dokument war an den Stabschef von Präsident Kais Saied gerichtet und legte die Schritte fest, die zur Erlangung der absoluten Macht unternommen werden sollten. Damals wurden der Artikel und ebenso das Dokument zu Recht ignoriert, weil es unmöglich war, den Plan zu überprüfen. Doch jetzt, wo die ersten im Dokument erwähnten Schritte in nur zwei Tagen umgesetzt wurden, scheint der Alptraum von der Wiedereinführung des Autoritarismus in Tunesien in Form einer konstitutionellen Diktatur immer realer zu werden.“

Gordonua.com (UA) /

Aus für Demokratie und Islamisten

Der arabische Frühling hat in Tunesien genauso verloren wie Ennahda, meint Iliya Kusa vom Ukrainian Institute for the Future in gordonua.com:

„Im tieferen Sinne ist das, was passiert ist, ein Schlag gegen den Mythos von Tunesien als einzigem erfolgreichen Experiment des arabischen Frühlings, als einer Demokratie, die andere nicht aufgebaut haben. Ein Mythos, den die westlichen Medien gerne hochleben ließen. ... Viele wollten, dass aus Tunesien ein Vorbild wird, eine Art Anti-Syrien oder Anti-Libyen. Aber man bekam eine schwache, gelähmte Halbdemokratie, die 10 Jahre nicht in der Lage war, aus der Krise zu kommen. … Und gleichzeitig ist die Situation in Tunesien auch ein Misserfolg für die Islamisten von Ennahda, die die Hauptgewinner der Revolution 2010-2011 waren.“

Le Monde (FR) /

Sozial und wirtschaftlich gescheitert

Saied will seine eigene Unfähigkeit autokratisch kaschieren, meint Historikerin und Maghreb-Expertin Sophie Bessis in Le Monde:

„Will er die Unterstützung des einfachen Volks behalten, muss der Staatschef die Ursachen der endlosen Krise, von der er profitiert hat, bekämpfen. In zwei Jahren als Präsident hat er vermehrt auf Verschwörungstheorien basierende Slogans und Argumentationen eingesetzt, ohne auch nur irgendeine strukturierte Reflexion darüber hervorzubringen, wie die ruinierte Wirtschaft wiederbelebt und der erschöpften Bevölkerung neue Hoffnung geschenkt werden soll. Es ist nicht auszuschließen, dass er sich, da er unfähig ist, Antworten auf die von ihm selbst bestärkten sozialen Forderungen zu liefern, in ein diktatorisches Abgleiten flüchtet.“

Polityka (PL) /

Gefährliche Machtkonzentration

Tunesiens Demokratie hängt am seidenen Faden, fürchtet Polityka:

„Die schlechte Nachricht ist, dass ähnliche 'Konsolidierungen' tendenziell zur Diktatur geführt haben. Eine Person übernimmt für einen Moment die Macht, verspricht, sie zurückzugeben, sobald die Ordnung geklärt ist, oft treten Schwierigkeiten auf und der Zeitpunkt der Rückkehr zur Demokratie verzögert sich.“

La Stampa (IT) /

Unsere Passivität ist Teil des Problems

Die EU hat die Krise mit zu verantworten, urteilt La Stampa:

„Europa, das lautstark die Bedeutung Tunesiens als einzige Demokratie in Nordafrika hervorhebt, war in diesen anderthalb Jahren der Pandemie in dramatischer Weise abwesend. Es hat das Land in eine tiefe Krise versinken lassen, die früher oder später eskalieren musste. Und es hat sich mit Tunesien fast ausschließlich unter dem Aspekt der Migration befasst. Indem wir uns auf ein Symptom versteifen und die Ursachen ausblenden, ist unsere Passivität ungewollt Teil des Problems geworden. ... Solange wir das nicht ändern und uns nicht mit dem Land als solchem befassen, sondern nur mit unserer Angst vor seinen Migranten, wird die Migration eine selbsterfüllende Prophezeiung bleiben.“

Financial Times (GB) /

Noch vorhandenen Einfluss nutzen

Die USA und die EU dürfen jetzt nicht den Fehler wiederholen, den sie in Ägypten gemacht haben, warnt Financial Times:

„Sie scheinen aber zuzuschauen, aus welcher Richtung der Wind in Tunesien weht. Das ist kurzsichtig. ... Die USA und die EU haben in Tunesien noch Einfluss, den sie auch nutzen sollten. Es wäre ein Desaster, das Land in die Trümmer einer arabischen Autokratie gleiten zu lassen. Der Westen und insbesondere Europa brauchen eine durchdachte Politik für den Nahen Osten und keine abwartende Haltung, die sich im Umgang mit starken Männern wohler fühlt als mit schwachen Institutionen, die es stattdessen eigentlich unterstützen sollte.“

News.bg (BG) /

Brüssel hat keine Zeit für Nordafrika

Die zögerliche Reaktion der EU und der USA auf die politische Situation in Tunesien deutet news.bg so:

„Brüssel hat derzeit keine zusätzlichen diplomatischen Ressourcen, um sich in Nordafrika einzubringen, da diese in den vergangenen Jahren von den Ereignissen in Libyen vereinnahmt worden sind sowie von den sich verschlechternden Beziehungen zwischen Marokko auf der einen und Spanien und Deutschland auf der anderen Seite. Dass die USA noch keine Erklärung abgegeben haben, weder von ihrer Botschaft in Tunesien noch über das Außenministerium, kann als Zeichen der Unterstützung für Kais Saied gedeutet werden.“

Gazete Duvar (TR) /

Seit Jahren instabil

Die Regierungskrise in Tunesien kommt nicht überraschend, weiß Gazete Duvar:

„Nach dem Abgang von Zine el-Abidine Ben Ali und der relativ milden Übergangszeit konnten die wirtschaftlichen Probleme der hoffnungsvollen Menschen nicht gelöst werden. ... Tunesien ist größtenteils ein Land des Tourismus und der Landwirtschaft. 2020 betrug das Pro-Kopf-Einkommen 3.600 Dollar, die Arbeitslosigkeit lag bei 17 Prozent. Eigentlich schon seit Monaten demonstrieren tunesische junge Menschen mit der Forderung nach Maßnahmen, die ihnen Arbeitsplätze schaffen und die durch Corona verursachten negativen Bedingungen lindern. ... Doch weil die Weltpresse mit anderen Orten beschäftigt ist, fällt das Land erst nach den jüngsten Entwicklungen auf.“

Gazeta Wyborcza (PL) /

Dafür wurde der Präsident gewählt

Gazeta Wyborcza lobt den Schritt des Präsidenten als konsequent:

„Kais Saied ist Rechtsanwalt und Hochschullehrer mit dem Schwerpunkt Verfassungsrecht. 2019 kandidierte er als parteiloser Außenseiter bei den Präsidentschaftswahlen und gewann sie mit mehr als 70 Prozent der Stimmen. Dank der Versprechen, das bestehende politische System zu reformieren und die Korruption zu bekämpfen, die in Tunesien nach wie vor ein großes Problem darstellt und für Unmut in der Bevölkerung sorgt, erhielt er so viel Unterstützung.“

Corriere della Sera (IT) /

Demokratische Verbündete müssen helfen

Gerade jetzt hätte Tunesien die Hilfe der EU dringend nötig, drängt Corriere della Sera:

„Seit Juni wird das Land von einer neuen Covid-Welle überrollt, mit unzureichenden Impfstoffen, Sauerstoffmangel in den Krankenhäusern und 100-200 Todesfällen pro Tag. ... Tunesien, das oft als die einzige Erfolgsgeschichte des Arabischen Frühlings zitiert wird, braucht Europa und demokratische Verbündete mehr denn je. Die Pandemie verschärft eine schwere Krise des institutionellen Systems, das nach dem Sturz der Diktatur im Jahr 2011 ins Leben gerufen wurde. ... Der Aufstieg des Populismus, der Verlust der Popularität der traditionellen Parteien und ihre Zersplitterung haben es unmöglich gemacht, die Reformen durchzuführen, die notwendig sind, um die Wirtschaft wiederzubeleben.“