Ein Jahr nach den Demos: Belarus in der Sackgasse?

Am 9. August 2020 ließ sich der langjährige Machthaber Aljaksander Lukaschenka zum Sieger der Präsidentschaftswahl in Belarus ausrufen - obwohl nach Ansicht der Opposition und auch internationaler Beobachter höchstwahrscheinlich Swetlana Tichanowskaja gewonnen hatte. Es folgten beispiellose Proteste, die Lukaschenka mit Gewalt niederschlagen ließ. Ein Jahr später fragt sich Europas Presse, ob und wie sich das Blatt noch wenden könnte.

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Polityka (PL) /

Ohne Freiheit in Russland bewegt sich nichts

Das Wochenmagazin Polityka wagt einen Blick in die Zukunft:

„In Polen dauerte es in den 1980er Jahren ein ganzes Jahrzehnt, bis die Massenproteste zu echten Veränderungen führten. Voraussetzung dafür waren die Krise und die Atmosphäre des Niedergangs sowohl in der Sowjetunion, als auch innerhalb des kommunistischen Regimes, sowie eine aktive Unterstützung aus dem Ausland. Für die Demokratisierung von Belarus bedarf es wohl ähnlicher Umstände. Wahrscheinlich muss der Putinismus zusammenbrechen oder Russland entscheiden, seinen westlichen Nachbarn nicht mehr als exklusive Einflusssphäre zu behandeln. Eine Chance bietet auch die 'Wachablösung', da weder Lukaschenka noch Putin der Biologie entkommen werden. Es gibt aber keine Garantie, dass die beiden Diktatoren nicht durch Klone oder noch größere Autokraten ersetzt werden.“

Delo (SI) /

Europa muss der Opposition helfen

Die aktuelle Situation in Belarus ist ein europäisches Problem, analysiert der ehemalige Diplomat Denis Mancević in einem Gastkommentar für Delo:

„Das Regime Lukaschenkas wird nämlich immer rücksichtsloser und verübt Staatsterror, was an sich schon eine internationale Herausforderung der Sicherheit ist. Die Entführung des zivilen Passagierflugzeugs über dem belarusischen Luftraum bestätigt dies. Deshalb muss die EU mehr tun. Sie muss proaktiver werden, der belarusischen Zivilgesellschaft mehr humanitäre und soziale Hilfe zukommen lassen und die Regulierung der Beziehungen zu Belarus ganz oben auf ihre Agenda setzen. Andernfalls werden sich die Höllenkreise für die belarusische Zivilgesellschaft noch weit in das dritte Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts fortziehen.“

Ukrajinska Prawda (UA) /

Mit dieser Grausamkeit hatte niemand gerechnet

Wie sehr sich Belarus im vergangenen Jahr geändert hat, beschreibt Ukrajinska Prawda:

„Weder mit dem Ausmaß der Proteste noch mit der Grausamkeit der Macht hatte man gerechnet. In diesem Jahr hat sich das offizielle Minsk gewandelt von einer autoritären Macht, mit der man noch verhandeln darf, zu einer undemokratischen Diktatur, die für die eigenen Bürger und die Nachbarländer eine Bedrohung darstellt. Nun gibt es sogar Sanktionen der westlichen Staaten gegen Lukaschenko persönlich. ... Die EU verhängt gegen amtierende Staatschefs nur in Ausnahmefällen Sanktionen, wenn sie glaubt, dass diese endgültig die Legitimität verloren haben und man nun die Brücken abreißen kann.“

La Stampa (IT) /

Wie eine südamerikanische Diktatur

Europa hat die Lage bis heute nicht begriffen, kritisiert La Stampa:

„Vor einem Jahr war niemand bereit für eine Revolution. Aljaksander Lukaschenka, der 'letzte Diktator Europas', kandidierte zum x-ten Mal, und der Rest der Welt bereitete sich darauf vor, seinen 'Sieg' an der Wahlurne nicht anzuerkennen, wie man es schon mehrmals während seiner 26-jährigen Herrschaft getan hatte. ... Ein Jahr später ist niemand auf die Niederlage und Enttäuschung vorbereitet: Nach Tausenden von verhafteten, gefolterten und inhaftierten Belarusen, Hunderten von Emigranten und Dutzenden von Toten sieht ein Europa, das in seinem annus horribilis vielleicht zu sehr abgelenkt war, mit Erstaunen zu, wie sich in seinem Herzen eine Repression von der Größe und Intensität einer südamerikanischen Diktatur der 1970er Jahre entfaltet.“

Frankfurter Rundschau (DE) /

Business as usual

Die Frankfurter Rundschau sieht das Regime aus mehreren Gründen noch fest im Sattel:

„[I]n Lukaschenkos Propagandafernsehen [laufen] weiter Werbespots für Schokoriegel von Mars, Nestlé und Co. Wenn es um Gewinne geht, ist es nicht weit her mit dem Unrechtsbewusstsein westlicher Konzerne. Sie machen Business as usual, und ihr Geld für die Werbespots fließt in Lukaschenkos Kassen. Die EU hat inzwischen zwar ihre Sanktionen gegenüber Belarus verschärft, aber von einer spürbaren Wirkung kann bislang keine Rede sein. Natürlich brechen Einnahmen weg, wenn beispielsweise Kali- oder Ölprodukte nicht mehr nach Europa exportiert werden können. Aber auf dem Umweg über Russland landet vieles dann doch auf dem Weltmarkt. ... So schnell ist Lukaschenko nicht kleinzukriegen. Vor allem nicht, solange Moskau ihm hilft.“

Dagens Nyheter (SE) /

Widerstand wie gegen die Sowjetunion!

Der Westen muss den Widerstand in Belarus noch besser unterstützen, mahnt Dagens Nyheter:

„Menschen, die vor der Diktatur fliehen, müssen damit rechnen können, einen Unterschlupf zu finden. Wer innerhalb des Landes protestiert, muss Unterstützung etwa bei Gerichtsprozessen erhalten. Alle Mittel, die damals für die Dissidenten in der Sowjetunion zum Einsatz kamen, müssen wieder hervorgeholt werden. Damals wurde unablässig und genau verfolgt, was mit diesen Personen passierte. Gleichzeitig müssen die Sanktionen gegen das Regime weiter verschärft werden. Der Wahl 2020 mangelt es natürlich an jeglicher Form von Legitimität. ... Lukaschenka muss weg.“

Nesawissimaja Gaseta (RU) /

Lukaschenka will formell auf einen neuen Posten

Das Regime will und kann sich derzeit ungestört umstrukturieren, erklärt Nesawissimaja Gaseta:

„Wie die Statistik zeigt, haben sich die bisherigen Sanktionen dank Russlands Hilfe nicht auf die Wirtschaft ausgewirkt. Sie werden auch keine neue Protestwelle auslösen, da die Staatsmacht dafür alle Maßnahmen getroffen hat - und sie vor dem Referendum über eine neue Verfassung noch verstärken kann. ... Zum neuen obersten Organ möchte man eine Allbelarusische Volksversammlung machen, die sowohl Präsident als auch Parlament und Regierung kontrolliert. Lukaschenka dürfte dabei bei einem positivem Referendumsausgang die Leitung der Versammlung übernehmen. Deshalb lässt die Staatsmacht keinerlei Störungen ihrer Reformpläne zu.“