Ukraine-Krieg: Fällt der Donbas komplett an Russland?

Im Krieg gegen die Ukraine führt Russland seine Eroberungen im Osten des Landes fort: Nachdem am Montag mit Lyssytschansk das Gebiet Luhansk praktisch vollständig eingenommen wurde, rücken russische Truppen nun auf die letzten noch unter ukrainischer Kontrolle stehenden Städte in der Region Donezk vor. Für Europas Presse ist der Ausgang des Krieges dennoch nicht entschieden.

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wPolityce.pl (PL) /

Die Zeit arbeitet gegen Moskau

wPolityce sieht Russlands Reserven dahinschmelzen:

„Russlands Industriekapazitäten reichen nicht aus, um verlorengegangene Rüstungsgüter zu ersetzen, und das bedeutet, dass die Fähigkeiten der Streitkräfte mit der Zeit abnehmen werden. Selbst wenn man die Abhängigkeit Russlands von importierten Komponenten und Elektronik für militärische Zwecke außer Acht lässt - und nach britischen Analysen ist diese beträchtlich -, sieht es so aus, als ob Russlands Vorsprung bei der Feuerkraft allmählich schrumpft. ... Wenn sich die Intensität der Kämpfe nicht ändert, die ukrainische Seite weiter durchhält und die Russen ähnliche Verluste wie in der ersten Phase des Krieges erleiden, könnte die Zeit, die sie zum Wiederaufbau ihres militärischen Potenzials benötigen, über ein Jahrzehnt betragen.“

Süddeutsche Zeitung (DE) /

Ein Schlag gegen die Kampfmoral

Vor allem psychologisch ist der Fall von Lyssytschansk eine große Niederlage für die Ukraine, meint die Süddeutsche Zeitung:

„Denn Selenskij und sein Generalstab hatten den Versuch, Sjewjerodonezk und Lyssytschansk unter großen Verlusten zu halten, ebenso mit Bedeutung aufgeladen wie die letzten Tage der letzten Kämpfer im Asow-Stahlwerk in Mariupol. Es ging nicht nur um Quadratkilometer und Strategie, sondern auch um das Gefühl: Wir können das schaffen. ... Für die Ukrainer wird es jetzt noch schwerer werden, das zu tun, was in der Sprache des Krieges heißt: die Moral hochhalten. ... Der Rückhalt für die Führung in Kiew ist nach wie vor enorm, ebenso wie die Bereitschaft, in den Kampf zu ziehen. Aber die Zeit - sie ist auf der Seite der Russen.“

Gândul (RO) /

Weltfrieden weiterhin bedroht

Putin setzt auf einen Zermürbungskrieg, schreibt der Kolumnist Cristian Lisandru in Gândul:

„Es ist wahr, dass die 'Ziele' mit der Zeit verändert wurden, so dass die Belagerung von Kyjiw zur Erinnerung wurde, während jetzt die Donbas-Region die 'Priorität' des Kreml ist. Ein Zermürbungskrieg ermöglicht natürlich solche Strategien, und die roten Fähnchen werden je nach den Interessen des Augenblicks auf der Landkarte verschoben. Wladimir Putin will immer noch einen 'Brocken' der Ukraine. ... Leider glaube ich, dass Putin auch nicht alle Karten auf den Tisch legt. ... Deshalb zittert der Weltfrieden über einer Arena, in der nicht nur Anschuldigungen hin- und herfliegen, sondern auch Langstreckenraketen, die töten können.“

L'Opinion (FR) /

Verlust des Donbas könnte die Ukraine retten

Würde Russland nach der Eroberung von Luhansk und Donezk einen Waffenstillstand ausrufen, wäre das zu begrüßen, meint der liberale Europaabgeordnete Bernard Guetta in L'Opinion:

„Nach einem Waffenstillstand könnte sich Wladimir Putin zwar auf eine neue Offensive vorbereiten, doch die Ukraine, die man allmählich Westukraine nennen würde und die schnell an ihre lange zurückliegende Vergangenheit als europäische Macht anknüpfen würde, wäre in der Lage, dem Kreml eine blühende, junge und freie Demokratie entgegenzusetzen - eine Freiheit und ein europäisches Gefühl, wonach sich die neue russische Mittelschicht in den Großstädten so sehr sehnt. Durch einen Waffenstillstand würde Wladimir Putin aus der Sackgasse herauskommen, in der er sich gerade befindet. Die Ukraine hingegen wäre ihrer Zerstörung entkommen.“

Népszava (HU) /

Der lächelnde Dritte

Der einzige Gewinner im Krieg wird China sein, prognostiziert Népszava:

„Russland könnte für Jahrzehnte auf das westliche Entwicklungsmodell und auf das mittelständische Lebensniveau, das man dort 'europäisch' nennt, verzichten. ... Die Ukraine würde 500 bis 1.000 Milliarden Euro für den Wiederaufbau brauchen, so viel wird sie aber nicht erhalten. Die Wunden werden dauerhaft schmerzen, dazu werden noch die Verbitterung aufgrund der verlorenen Gebiete und Bevölkerung kommen, und die politische Instabilität ... Die EU wird jahrelang mit der Umstrukturierung des Energieimports und Industrieexports beschäftigt sein, die zahlreiche Schwierigkeiten darstellt ... [während] China leise lächelnd beobachtet, wie seine Rivalen einander schwächen.“