Was bedeuten die ukrainischen Rückeroberungen?
Innerhalb weniger Tage hat die ukrainische Armee im Gebiet Charkiw große Gebiete zurückerobert. Russland zog überstürzt aus der Region ab, reagierte aber auch mit Raketenangriffen auf zivile Kraftwerke in der Ukraine. Kommentatoren fragen sich, wie der Erfolg möglich wurde - und welche Konsequenzen sich für Kyjiw, den Westen, aber auch für Moskau daraus ergeben.
Strategisches Dilemma für Kyjiw
Die Rückeroberungen im Nordosten zwingen die Ukraine zu einer schweren Entscheidung, analysiert Politologe Cyrille Bret in The Conversation:
„Diese Gegenoffensiven bringen offenkundig die Entschlossenheit der Ukrainer zum Ausdruck, ihren Staat zu retten, ihr Gebiet und ihre Souveränität zu verteidigen. Sie sind jedoch im Raum und in ihren Ergebnissen begrenzt. Daher spitzt sich die Frage nach dem von der Ukraine verfolgten strategischen Ziel zu. … Sollten sich die derzeit verzeichneten taktischen Erfolge bestätigen und wiederholen, wird die ukrainische Regierung vor ein echtes Dilemma gestellt: einen vollständigen Sieg in weiter Ferne anstreben oder einen unzufriedenstellenden Frieden in näherer Zukunft vorziehen?“
Abtretung der Krim als Zugeständnis an Moskau
Público sieht Chancen für eine Verhandlungslösung, sofern beide Seiten Zugeständnisse machen:
„Es ist unrealistisch, die Kapitulation einer der beiden Parteien zu fordern. Das wird weder von Russland noch - zu Recht - von der Ukraine akzeptiert werden. Beide könnten kleine Siege verbuchen, falls man den Status der Krim einbezieht. Die Krim ist historisch gesehen kein ukrainisches Hoheitsgebiet und könnte unter russische Souveränität zurückkehren, wodurch die seit 2014 bestehende De-facto-Situation festgeschrieben würde. Das wäre ein Trumpf, um die öffentliche Meinung und den Moskauer Militarismus zu beschwichtigen. ... Und die Ukraine könnte stolz darauf sein, dass sie zum ersten Mal seit 300 Jahren einen Annexionsversuch ihres riesigen Nachbarn abwehren konnte.“
Lehren aus Versailles nicht ignorieren
Die Geländegewinne der Ukraine sind erfreulich, aber zugleich auch Grund zur Sorge, meint Kristeligt Dagblad:
„Das Risiko besteht darin, dass [in Russland] fanatische Nationalisten übernehmen, die sich nicht scheuen, Atomwaffen einzusetzen oder hunderttausende Wehrpflichtige als Kanonenfutter zu mobilisieren. ... Daher ist es höchste Zeit, darüber nachzudenken, wie Russland vor sich selbst und der totalen Demütigung gerettet werden kann. Darauf gibt es keine einfachen Antworten, aber das erschreckendste Beispiel ist nach wie vor der Versailler Vertrag nach dem Ersten Weltkrieg, der ein gedemütigtes Deutschland hinterließ, das 20 Jahre später Rache nahm und die bis heute weltweit schlimmste Kriegskatastrophe verursachte.“
Putin gerät auch zu Hause unter Druck
Putin kann nicht länger zum Rückzug der russischen Armee schweigen, wenn er seinen Rückhalt bei Bevölkerung und Eliten bewahren möchte, meint Kaleva:
„Ziemlich außergewöhnlich ist, dass eine Reihe lokaler Abgeordneter in Moskau, St. Petersburg und der Kleinstadt Kolpino bei St. Petersburg öffentlich den Rücktritt des Präsidenten forderten. Noch ist zu erwarten, dass diese Forderung denjenigen, die sie stellen, mehr Probleme bereiten wird als Putin selbst, aber auch der Druck auf den Präsidenten wächst von Tag zu Tag. Bis zum frühen Montagabend hatte er sich nicht zur jüngsten militärischen Entwicklung geäußert. Das Schweigen kann nicht weitergehen. Andernfalls entsteht der Eindruck eines ratlosen Präsidenten. Dieser Eindruck könnte aber auch richtig sein.“
Die Wende mit mehr Waffen absichern
Der militärische Erfolg der Ukraine zeigt für die Aargauer Zeitung zweierlei:
„1. Nur die Ukrainer entscheiden, wann es Zeit wird für Verhandlungen. Niemand sonst. Und 2. Westliche Waffenlieferungen machen den entscheidenden Unterschied. Panzer aus Polen, Transporter aus den USA, Geheimdienstinformationen und moderne Artillerie- sowie Luftabwehrgeschütze ermöglichen es den Ukrainern, ihr Land zurückzuholen. Putins Armee ist noch nicht geschlagen. Doch dieser Vorstoss könnte den Wendepunkt bedeuten. Wenn der Westen jetzt nicht einknickt, sondern alles liefert, was die Ukraine braucht, kann sie diesen Krieg gewinnen.“
Nun wird Putin den Krieg beim Namen nennen müssen
Putins Strategie ist gescheitert, erklärt La Repubblica:
„Seit April war man bemüht, die Zahl der Opfer in Grenzen zu halten. Man hat die Kämpfe hauptsächlich Fußsoldaten aus den separatistischen Republiken, Söldnern und paramilitärischen Brigaden der Nationalgarde anvertraut. Das waren zusammengewürfelte, unkoordinierte Truppen, die die ukrainische Offensive nicht auf organisierte Weise abzuwehren vermochten. Diese Entscheidung beruhte auf dem Wunsch, nicht aufzufallen und weiterhin eine 'Spezialoperation' durchzuführen, ohne Wehrpflichtige zu mobilisieren und den Kriegszustand zu erklären. Jetzt wird das vom Kreml verbotene Wort von den Hardlinern beschworen, und es scheint keine Alternative zu geben.“
Turbo-Boost für die Moral
Der erfolgreiche ukrainische Vormarsch ist eine zusätzliche Unterstützung der Kampfmoral auf Seiten der Ukraine, analysiert Večernji list:
„Für die Ukrainer ist die Aktion ein Turbo-Boost für die Moral, für die Russen das Gegenteil. Schon bisher war fraglich, wie sehr Russen aus Russland Lust hatten, in der Ukraine zu kämpfen, während ihre Kämpfer aus den besetzten Gebieten sowieso schon grundlegend demoralisiert waren. ... In lediglich sechs Monaten verblieben den Russen nur rund 200.000 Soldaten, während die Ukrainer mittlerweile mehr als 800.000 Soldaten aufgestellt haben. Dieser Unterschied wird nun merkbar.“
Es wird zur Eskalation kommen
Das Handelsblatt fürchtet die russische Reaktion:
„Putin kann sich eine Niederlage nicht leisten. Um seine Herrschaft zu sichern, wird er nun alle Kräfte aufbringen müssen. Russland droht die Generalmobilmachung und der Ukraine ein Vernichtungsfeldzug. Putin wird der Ukraine den Winter zur Hölle machen. Er könnte etwa Stromleitungen, Gaspipelines und Kraftwerke serienweise zerstören, um die Ukrainerinnen und Ukrainer so frieren zu lassen, dass sie inmitten der aufziehenden Energiekrise nach Westeuropa fliehen. Für Putin bedeutet die nun zu erwartende Eskalation des Krieges volles Risiko.“
Das Schreckgespenst aus den Köpfen verjagt
Der Chef der liberalen Partei Demokratyczna Sokyra, Jurij Hudymenko, vertritt in einem Facebook-Post die Auffassung, die Ukraine habe die russische Armee entzaubert:
„Seit dem Beginn des Kalten Krieges haben westliche Politiker Moskau Zugeständnisse gemacht, weil sie dessen Armee fürchteten. ... Heute befreit die ukrainische Armee nicht nur unsere Territorien. Sie befreit die Köpfe der führenden Politiker der Welt von Ängsten und Mythen. Jetzt hat Russland nichts mehr, womit es drohen könnte, außer Atomwaffen, und mit solchen Argumenten kann man nicht lange am Verhandlungstisch sitzen. Deshalb ist Russland dabei, jeden Einfluss in der Welt zu verlieren. Ein Schurkenstaat, ein Schreckgespenst, ein Land des Nichts.“
Niemand will Russen die bittere Pille verkaufen
Insiderberichten zufolge wird in Kreisen der russischen Elite die Wut auf Putin immer größer. Wirtschaftsprofessor Konstantin Sonin erklärt auf Facebook, warum dennoch niemand die Führung übernehmen will:
„Soll doch jemand anderes jener Bote sein, der den Russen schlechte Nachrichten überbringt und damit jede Chance auf Popularität einbüßt. Deshalb werden diejenigen, die gleich 'nach Putin' kommen werden, womöglich so tun, als sei alles bestens. ... Sie werden versuchen, zu sparen ohne Militärs zu entlassen. Und weiter lügen, dass alles nach Plan läuft. Denn den Russen zu sagen, wohin sie 20 Putin-Jahre und der Krieg gebracht haben und was man tun muss, um das Land wieder in Ordnung zu bringen - das macht ihnen mehr Angst als das Anzetteln einer Verschwörung.“
Europa muss Waffen für die Ukraine produzieren
Insbesondere Deutschland und Frankreich müssen jetzt weitere Waffen liefern, fordert De Volkskrant:
„Die meisten Europäer verstehen, dass die Ukraine mehr und schwereres Material braucht sowie einen ständigen Nachschub an Munition. Mehr als sie jetzt bekommt. Die Frage, was europäische Länder mit ihren relativ kleinen Armeen und begrenzten Vorräten tun können, bleibt akut. Europäische Länder könnten etwa auch ihre industrielle Kapazität mobilisieren. Berlin und Paris haben hier, gelinde gesagt, eine Chance auf eine Führungsrolle nicht genutzt - mit vielleicht bleibenden Folgen für die europäische Politik.“