Wie hat der Krieg die Rollen in Europa verändert?

Bald dauert der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine ein volles Jahr. Bereits jetzt blicken in den Kommentarspalten der europäischen Presse viele Journalisten und Experten darauf zurück, wie dieser Krieg Europa und die Welt verändert hat. In der heutigen Debatte liegt der Fokus darauf, wie sich die Position einzelner Staaten im Gefüge der Mächte und Allianzen verschoben hat - und warum.

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Polityka (PL) /

Deutschlands Weltbild in Trümmern

In Polityka anaylsiert der Politologe Piotr Buras den Hintergrund der vielzitierten deutschen Zeitenwende:

„Die Weltordnung, die sich nach dem Kalten Krieg herausgebildet hatte, passte perfekt zur politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland. Zumindest schien es so. ... Die liberale Demokratie, der Pazifismus, die soziale Marktwirtschaft, die Offenheit, die Nebenrolle militärischer Macht - all dies war wie geschaffen für das 'Ende der Geschichte', in der die Interdependenz dauerhaft dominieren sollte. Länder wie Russland oder China sollten gerade durch Handel und Austausch früher oder später die Werte und Mechanismen des offenen Marktes und der Demokratie übernehmen. ... In diesem Weltbild passte alles wie angegossen und Deutschland zog stürmisch voran. Bis zum 24. Februar 2022.“

Gazeta Wyborcza (PL) /

Polen kann gewachsene Bedeutung nicht ausspielen

Polen vertut eine historische Chance, glaubt der prominente Analyst Eugeniusz Smolar in Gazeta Wyborcza:

„Polen hat als Drehscheibe für die Ukraine an Bedeutung gewonnen, aber die Konflikte der derzeitigen Regierung mit den EU-Institutionen und der großen Mehrheit der Regierungen der Mitgliedstaaten berauben Warschau der notwendigen Autorität, die künftige Linie des gesamten Westens wirksam zu beeinflussen. Das ist das eigentliche Drama der polnischen Außenpolitik im Jahr 2023.“

Népszava (HU) /

Orbán erkennt seine Feinde nicht

Die ungarische Regierung zeigt sich unverändert russlandfreundlich, bedauert Népszava:

„Die Ukraine ist der Wellenbrecher gegen die russische Flut, und die Nato ist die Felswand dahinter. ... In diesem Zusammenhang ist es entweder eine selbstmörderische Lemming-Politik oder schlichter Verrat, heute in Ungarn eine pro-russische Politik zu verfolgen, die den ukrainischen Verteidigungskrieg behindert. ... Vielleicht versteht mittlerweile auch der Premierminister, dass Putin heute genauso unser 'Freund' ist wie Hitler es war, lernt aus den Fehlern seiner Vorgänger und steigt rechtzeitig aus der russischen Troika aus. Es wäre schön, daran glauben zu können. Jedoch gibt es kein einziges Anzeichen dafür.“

grani.ru (RU) /

Putins imperiale Träume sind geplatzt

Der Krieg wird noch andauern und hat doch schon ein Ergebnis, schreibt der ukrainische Journalist Vitali Portnikow auf grani.ru:

„Wir stehen erst am Anfang eines schwierigen Prozesses, und niemand, nicht einmal die unverbesserlichsten Optimisten, kann auch nur einen Lichtschimmer am Ende des Tunnels sehen. Aber als Ergebnis des heldenhaften Widerstands des ukrainischen Volkes gegen die russische Aggression haben wir das Wichtigste: den Tunnel selbst. Wir wissen jetzt, dass Putin, egal was er noch tut, nicht in der Lage sein wird, das Russische Reich wiederherzustellen. ... Ja, es wird weiterhin Krieg geben - einen brutalen, langen, schrecklichen, unerbittlichen Krieg. Aber kein Imperium.“