Israel: Knesset setzt Justizreform durch

Die Regierungsmehrheit der Knesset-Abgeordneten hat am Montag ein Kernelement der umstrittenen Justizreform verabschiedet. Die Opposition blieb der Abstimmung fern. Ex-Premier Jair Lapid kündigte eine Klage vor dem Obersten Gerichtshof an, der durch die Reform geschwächt werden soll. Eine Großdemonstration ist für Samstag angekündigt. Europas Presse ist besorgt.

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Salzburger Nachrichten (AT) /

Netanjahu hat sich mit dem Volk angelegt

Die Massenproteste zeigen, wie lebendig die angegriffene Demokratie im Land ist, schwärmen die Salzburger Nachrichten:

„Bürger, die für die Besetzung des Westjordanlandes sind, stehen neben Bürgern, die gegen die Besetzung des Westjordanlandes sind. Menschen aus dem rechten Lager neben Menschen aus dem linken Lager - denn so klar lassen sich die Linien nicht ziehen, die die israelische Gesellschaft trennen. Die Demokratie in Israel ist unter Druck - und gleichzeitig ist sie unglaublich lebendig. Eine halbe Million war in den vergangenen Tagen auf den Beinen, um die Demokratie in ihrem Land zu retten. … Netanjahu hat sich mit dem Volk angelegt - mit einem, das sich nichts gefallen lässt.“

El País (ES) /

Einzige Demokratie im Nahen Osten ist schutzlos

Das Vorgehen von Israels Regierung erinnert El País an jenes anderer illiberaler Staaten:

„Bibi [Benjamin Netanjahu] wollte nicht nur die Macht zurückgewinnen, sondern sich vor allem vor der gerichtlichen Bedrohung wegen dreier Korruptionsfälle schützen. ... Netanjahu hatte keinerlei Skrupel, die Verfassungskontrolle so weit auszusetzen, dass die einzige liberale Demokratie im Nahen Osten nun schutzlos ist. ... Ohne verfassungsrechtliche Kontrolle wird nichts und niemand verhindern, dass die Rechte der Palästinenser noch stärker als jetzt verletzt werden. ... Das ähnelt immer mehr dem Modell der südafrikanischen Apartheid. ... Und Israel hat sich in dieser Woche offen dem Lager der illiberalen Demokratien der Türkei oder Ungarns angenähert.“

NRC (NL) /

Unkluges Eigentor

Mit der umstrittenen Justizreform manövriert sich Netanjahu selbst ins Abseits, meint NRC:

„Vor allem weil er einen gefährlichen Präzedenzfall schafft, wenn die Politik eingreift in die Befugnisse einer Instanz, die ihre Macht kontrolliert und wenn nötig einschränkt. ... Wegen der Besatzung von palästinensischem Gebiet war es schon immer eine zweifelhafte Behauptung, dass das Land 'die einzige Demokratie im Mittleren Osten' ist, weil nicht alle Bürger in dem von Israel verwalteten Gebiet im selben Maße diese Demokratie auch genießen. Mit diesem jüngsten Gesetzesvorschlag wird dieser Anspruch weiter untergraben. Ein unkluges Eigentor.“

La Repubblica (IT) /

Rettet die Demokratie!

Der israelische Historiker Yuval Noah Harari warnt in einem Gastbeitrag in La Repubblica eindringlich vor der Justizreform:

„Solide Demokratien beruhen auf einem System der Gewaltenteilung, aber Israel hat keine Verfassung, kein Oberhaus, kein föderales System und keine andere Kontrolle der Regierungsgewalt, außer einer: dem Obersten Gerichtshof. … Wir sind es uns selbst, der jüdischen Tradition und der Menschheit schuldig, den Aufstieg einer jüdischen suprematistischen Diktatur zu verhindern. Bitte stehen Sie uns bei und helfen Sie uns, die israelische Demokratie zu retten!“

Dagens Nyheter (SE) /

Langfristige Ziele sind noch erschreckender

Dagens Nyheter befürchtet eine Eskalation der Gewalt im Nahen Osten:

„Mehrere Analytiker warnen, das langfristige Ziel der Regierungskoalition sei eine Ordnung, die die arabische Bevölkerungsminderheit de facto ihres Stimmrechts beraubt - was den Rechtsnationalisten eine parlamentarische Mehrheit sichern würde - und auf längere Sicht die Annexion des gesamten Westjordanlandes. Dies würde eine Zweistaatenlösung zwischen Israel und Palästina unmöglich machen. ... Die 'Justizrevolution' der israelischen Rechts-Koalition vom Montag könnte im Nahen Osten eine neuerliche Gewaltspirale mit unübersehbaren Folgen auslösen.“

Polityka (PL) /

Demokratie funktioniert anders

Den Argumenten der Befürworter der Justizreform kann Polityka nichts abgewinnen:

„Damit bekommt das System Risse, das bisher das Gleichgewicht der Gewalten garantierte. Nicht die Gerichte werden die Regierung kontrollieren, sondern die Regierung wird die Gerichte zur Rechenschaft ziehen und dabei heuchlerisch behaupten, dass dies die Demokratie stärke. ... Eines der Hauptargumente war es, einem Gericht die Macht zu entziehen, das nicht von den Bürgern gewählt wurde. Das Problem ist, dass die Mehrheit der Bürger die Reform ablehnt (wie aus Umfragen hervorgeht) und darüber hinaus bis zu 85 Prozent von ihnen nun einen Bürgerkrieg befürchten. Auf wen hören der Premier und seine Gefolgsleute also wirklich?“

The Economist (GB) /

Es stehen stürmische Zeiten bevor

Die Justizreform stürzt das Land ins Chaos, urteilt The Economist:

„Israel könnte sich innerhalb weniger Tage in einer Verfassungskrise befinden ... Die Demonstranten, die glauben, dass sich ihr Land auf dem Weg in eine Diktatur befindet, werden nicht aufgeben. Ganze Reserveeinheiten könnten lahmgelegt werden. Große Wirtschaftskonzerne haben ihre Betriebe bereits aus Protest geschlossen und die Gewerkschaften erwägen einen Generalstreik. Nach der Abstimmung brachen wütende Proteste aus, die im Zentrum von Jerusalem, Tel Aviv und anderswo im Land für Chaos sorgten. Israel steht vor einem stürmischen Sommer.“

NRC (NL) /

Gemäßigte werden marginalisiert

Netanjahu muss eine riesige Kluft schließen, die durch die Justizreform nun offensichtlich geworden ist, mahnt NRC:

„Die Zweiteilung besteht schon viel länger und wird durch demografische Entwicklungen und politische Radikalisierung immer größer. Ultra-orthodoxe und ultra-nationalistische Israelis bekommen viel mehr Kinder und immer mehr politischen Einfluss. Gemäßigte Israelis fühlen sich zunehmend marginalisiert und denken immer häufiger an Emigration. Deutschland ist zur Zeit ein populäres Ziel für Israelis, die dem 'Faschismus' in ihrer Heimat entkommen wollen, wie sie unverblümt sagen.“

Rzeczpospolita (PL) /

Die nationale Sicherheit steht auf dem Spiel

Auch in Polen kennt man Proteste gegen Beschneidungen der Justiz, erinnert Rzeczpospolita,

„doch gemessen an der Bevölkerungszahl sind das in Israel unvergleichlich mehr als in Polen. Warum hat die Sorge um die Justiz so viele Menschen dazu veranlasst, zu demonstrieren, gewichtige Erklärungen abzugeben und Risiken einzugehen? Es gibt viele Gründe, aber der wichtigste scheint die Lage Israels zu sein, das vor kurzem den 75. Jahrestag seiner Unabhängigkeit feierte. Auf dem Spiel steht die Sicherheit eines Landes, in dem neue Gesetze von Nationalisten und religiösen Extremisten diktiert werden. Damit wird es seiner nahöstlichen Umgebung ähnlicher und entfernt sich vom Westen.“