Nach Nawrocki-Sieg: Wohin steuert Polen?
Nach dem Sieg des von der rechtskonservativen PiS unterstützten Karol Nawrocki bei der Stichwahl um Polens Präsidentschaft hat Premier Donald Tusk angekündigt, am 11. Juni die Vertrauensfrage zu stellen. Der für das liberal-konservative Regierungslager angetretene Rafał Trzaskowski war Nawrocki am Sonntag mit 49,1 Prozent der Stimmen knapp unterlegen. Kommentatoren betonen die europäische Dimension des Ergebnisses.
Außenpolitik durch die innenpolitische Brille
TVNet analysiert, wie sich Polens außenpolitischer Kurs verändern könnte:
„Der künftige Präsident kritisiert die Machtkonzentration in Brüssel, lehnt die europäische Klimapolitik ab und fordert Polen auf, sich entschiedener gegen die dominante Rolle Deutschlands in der EU zu positionieren ... Insgesamt orientierte sich Nawrockis öffentliche Haltung zu internationalen Fragen bisher eher an den Interessen seiner Wählerschaft als an langfristigen Sicherheitsstrategien. War Duda ein vergleichsweise international aktiver Verbündeter, positioniert sich der nächste Präsident zumindest vorerst als 'Hüter der Innenpolitik' – als jemand, der Außenpolitik durch das Prisma polnischer nationaler Interessen und nicht durch die kollektive Handlungsfähigkeit des Bündnisses bewertet.“
Kyjiw vor neuen Herausforderungen
Ewropeiska Prawda befürchtet einen Kurswechsel in Polens Ukraine-Politik:
„Unter den von Nawrocki unterzeichneten Verpflichtungen [gegenüber Mentzen] findet sich auch die Zusicherung, keine polnischen Truppen in die Ukraine zu entsenden und den Nato-Beitritt der Ukraine zu blockieren. Es bleibt nur zu hoffen, dass Nawrockis Sieg keine Probleme für die militärische Unterstützung der Ukraine mit sich bringt. Immerhin hat der Wahlsieger bisher Aussagen zur Einstellung der militärischen Hilfe für Kyjiw vermieden. ... Allerdings ist anzunehmen, dass künftig vermehrt Forderungen laut werden, Kyjiw solle seine 'Schulden' für die Unterstützung begleichen – etwa durch Zugeständnisse in der Erinnerungspolitik oder durch Vorteile für polnische Unternehmen auf dem ukrainischen Markt.“
Droht wieder Blockade von EU-Geldern?
Polen könnte es sich erneut mit Brüssel verderben, fürchtet Jutarnji list:
„Die starke politische, gesellschaftliche und kulturelle Spaltung Polens, die seit Mitte letzten Jahrzehnts existiert, wird nicht weniger. Die Folgen werden sicherlich eine 'harte Kohabitation', die eine Reihe von Plänen der Regierung, wie eine Reform der Justiz, deren Unabhängigkeit die achtjährige Regierungszeit der PiS zerstört hat, in Frage stellen. Wegen solcher Politiken erntete Polen Kritik der EU und verlor den Zugriff auf EU-Fonds, was sich nach dem Amtsantritt von Tusk änderte. Sollte Nawrocki Gesetzesvorschläge der Regierung ablehnen, ist nicht ausgeschlossen, dass es in Brüssel wieder Diskussionen über den Zugang zu EU-Mitteln geben wird.“
Herber Rückschlag für Progressive
Die linke Krytyka Polityczna sieht auf absehbare Zeit keine Hoffnung für ein liberaleres Polen:
„Für fortschrittliche Wählerinnen und Wähler bedeutet der Sieg von Nawrocki, dass die Alt-Right-Bremse, um nicht zu sagen die reaktionäre, angezogen wird. In den nächsten fünf Jahren gibt es keine Hoffnung auf eingetragene Lebenspartnerschaften, legale Abtreibung oder gesetzliche Änderungen, die zu einem säkularen Staat führen.“
Kein Pro-Trump-Sieg
Karol Nawrockis Sieg auf seine Nähe zum US-Präsidenten zurückzuführen, verfehlt für Irish Examiner den Kern der Sache:
„Es waren vielmehr die Positionen des ehemaligen Boxers und revisionistischen Historikers zu Themen wie Abtreibung, Wiederherstellung der Unabhängigkeit der polnischen Justiz, Migration, Klimafragen und dem Beitritt der Ukraine zur EU, die ihm den Sieg bescherten. ... Mit dem Ziel, Tusk und seine Kollegen vor den nächsten Parlamentswahlen im Jahr 2027 zu schwächen, wird Nawrocki auch versuchen, die einheitliche pro-ukrainische Haltung der EU sowie die Beziehungen seines Landes zu den anderen Nato-Mitgliedern zu erschweren. ... Sein Sieg war kein 'Pro-Trump-Sieg', dennoch wird er große Auswirkungen auf Warschau, ganz Europa und darüber hinaus haben.“
Drohende Instabilität in Warschau
Es könnte zu vorgezogenen Neuwahlen kommen, erklärt Laurynas Vaičiūnas, Direktor des Jan Nowak Jeziorański College for Eastern Europe in Breslau, gegenüber LRT:
„Die Regierungskoalition wackelt ... Sollte Nawrocki entsprechende Signale an die Regierung senden – was er aller Wahrscheinlichkeit nach tun wird, könnten kleinere Koalitionsparteien in Versuchung geraten, Gespräche mit der PiS oder anderen Oppositionsparteien aufzunehmen. Es besteht die Gefahr, dass in Polen vorgezogene Neuwahlen stattfinden, obwohl erst in zweieinhalb Jahren gewählt werden sollte. Andererseits könnten die derzeitigen Regierungsparteien enger zusammenrücken – im Bewusstsein, dass Neuwahlen kaum zu ihren Gunsten ausfallen würden. ... Es stehen also sehr schwierige zweieinhalb Jahre bevor.“
Front gegen Russland geschwächt
Kein gutes Ergebnis für Europa und Estland, analysiert Eesti Päevaleht:
„Polen steht neben Estland an vorderster Front, wenn es darum geht, die Bedrohung durch Russland ernst zu nehmen und eine echte Verteidigungsfähigkeit aufbauen. Daran wird sich auch nach der Präsidentschaftswahl nichts ändern. Dennoch gibt es Grund zur Sorge um Polen. Donald Tusk, der in Europa respektiert und gehört wird, hat Polen schnell auf die Höhe von oder sogar vor Großbritannien, Frankreich und Deutschland gebracht und dabei unsere Interessen und unsere Botschaft mitgenommen. ... Das alles bedeutet ein schwächeres und passiveres Polen, und das zu einem Zeitpunkt, an dem die an Russland angrenzenden Länder eine möglichst starke gemeinsame Front aufrechterhalten sollten.“
Dämpfer für das europäische Projekt
Le Soir sieht das Dreieck Berlin-Paris-Warschau in Gefahr:
„In den letzten Wochen haben die gemeinsamen Erklärungen der deutschen, französischen und polnischen Staats- und Regierungschefs den Glauben an das europäische Projekt und seine Fähigkeit, eine eigenständige Kraft gegen Angriffe von außen zu entwickeln, wieder aufleben lassen. Doch heute macht das Trio keine gute Figur mehr: ein umstrittener und von der extremen Rechten herausgeforderter Macron, ein sehr knapp gewählter deutscher Kanzler und ein polnischer Premier, der auf der Kippe steht. Mit Nawrocki in Polen, Orbán in Ungarn, Fico in der Slowakei, Meloni in Italien und einer möglichen Babiš-Rückkehr in Tschechien ist das Lager der Nationalisten, Rechtsextremisten und Populisten im Aufwind – beflügelt durch Trump und seine Maga-Armada.“
Beide Lager müssen Kompromisse suchen
Deník mag im Wahlausgang keine Katastrophe sehen:
„Die schlimmste Option wäre, wenn Jarosław Kaczyński und seine Partei PiS den Erfolg bei der Präsidentschaftswahl als Blankoscheck für eine Rückkehr an die Macht, eine schnelle Auflösung der Regierung und vorgezogene Neuwahlen werten würden. Denn dann würde die Wahlnacht vom Sonntag, die die Macht in einem gespaltenen Polen korrekt aufgeteilt hat, ihre Bedeutung verlieren. ... Polen braucht genau das Gegenteil: größtmögliche Übereinstimmung und die größtmögliche Zusammenarbeit aller demokratischen und prowestlichen Kräfte. Die PiS und 'ihr' Präsident Karol Nawrocki haben nun die Chance zu zeigen, dass sie dazu in der Lage sind. Wie auch die Regierung Tusk.“
Wähler enttäuscht von der Regierung
Rzeczpospolita sieht einen Denkzettel für die Koalition unter Premier Tusk:
„Nach nur anderthalb Jahren an der Regierung ist die Regierungskoalition fast so 'abgenutzt' wie die PiS nach acht Jahren. ... Dieses knappe Wahlergebnis ist auch ein Beweis dafür, dass Donald Tusk und sein Lager nicht in der Lage sind, sich allein mit Angst [vor einer Wiederwahl der PiS] und Abrechnungen [mit der PiS-Politik] an der Macht zu halten. Die Polen sind eindeutig enttäuscht, weil sie nicht sehen, in welche Richtung sich die derzeitige Regierung bewegt. ... Wenn diese ihre Hausaufgaben nicht macht, wird sie die Parlamentswahlen 2027 mit einem Paukenschlag verlieren.“
Entscheidend waren die ländlichen Gebiete
Der Kandidat des liberalen Lagers, der Warschauer Bürgermeister Rafał Trzaskowski, war den Wählern auf dem Land zu städtisch, glaubt der Publizist Leszek Jażdżewski in Interia:
„Rafał Trzaskowski war nicht glaubwürdig im Werben um die Stimmen der polnischen Provinz. ... Ich kann nicht sagen, wie viel davon auf Persönlichkeitsmerkmale zurückzuführen ist und wie viel darauf, dass sich Menschen außerhalb der [städtischen] Mittelschicht objektiv einfach nicht mit jemandem wie ihm identifizieren können. Diese Wahl wurde auf dem Lande gewonnen und in den großen Städten verloren.“
Blockade-Politik zu erwarten
Das Ergebnis der Stichwahl ist eine schlechte Nachricht für die polnische Regierung, analyisert hvg:
„Nawrocki erklärt offen, dass er ein Gegengewicht zur Regierung sein will. ... Zudem ist das Verhältnis zwischen Regierung und Nawrocki denkbar schlecht. Der neue Präsident wurde von der Regierungsseite im Wahlkampf gleichsam als Krimineller dargestellt. ... Es ist mehr als fraglich, wie sich das Verhältnis zwischen Nawrocki und der Regierung nach alldem entwickeln wird, ja, es ist sogar nicht auszuschließen, dass die Regierung von Donald Tusk frühzeitig scheitern wird. ... Schließlich kann das Staatsoberhaupt alle von der Regierungsmehrheit verabschiedeten Gesetze per Veto verhindern.“
Auf Konfrontationskurs mit Brüssel
Der pro-europäische Kurs von Tusk ist nun in Gefahr, befürchtet De Standaard:
„In Polen droht eine weitreichende politische Blockade, die bis zur nächsten Parlamentswahl Ende 2027 dauern könnte. ... Der ausgeprägte europäische Kurs von Premier Tusk wird unter Druck geraten. Seit seinem Amtsantritt Ende 2023 suchte Tusk die Annäherung an Frankreich, Deutschland und Großbritannien. ... Die Wahrscheinlichkeit, dass Konfrontationen mit Europa in den nächsten Jahren mit Nawrocki nur noch zunehmen werden, ist groß.“
Befürworter eines starken, souveränen Polens
Mit Nawrocki als Präsident droht dem Land wenigstens keine Annäherung an Moskau, so Aktuality.sk:
„Der von Kaczyńskis PiS-Partei unterstützte Nationalkonservative ist zwar gegen die EU-Integration, er wird sein Land aber nicht an Russland verkaufen. Selbst mit ihm an der Spitze wären die Polen besser dran als mit [dem slowakischen Premier] Robert Fico. Nawrocki propagiert ein starkes, souveränes Polen, das die Vorteile der europäischen Integration außer Acht lässt. ... Es wird mit Nawrocki nicht angenehm sein, aber es ist keine Tragödie. Die Polen sind mit einem angeborenen Misstrauen gegenüber Russland ausgestattet. Sie werden niemals zulassen, dass ihr Land unter die Herrschaft eines Massenmörders im Kreml gerät.“