Frankreich: Mehr Unabhängigkeit für Neukaledonien

Das französische Überseegebiet Neukaledonien soll mehr staatliche Souveränität erhalten, aber weiter zur Republik gehören. Darauf einigten sich Unterhändler aus Paris und den politischen Lagern der südpazifischen Inselgruppe. Im Mai 2024 hatte dort eine geplante Wahlrechtsreform zugunsten zugezogener Festlandfranzosen zu blutigen Unruhen geführt. Mit Lob und Skepsis schaut Europas Presse nun auf den Kompromiss.

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Ouest-France (FR) /

Gratwanderung in die Zukunft

Neukaledonien ist auf einem guten, aber holprigen Weg, urteilt Ouest-France:

„Durch das Verantwortungsbewusstsein, das die Beteiligten an diesem Dialog gezeigt haben, hat Neukaledonien den Weg zurück zur Demokratie gefunden. Es war ein weiter Weg. … Das Abkommen hat einen neuen Rahmen geschaffen: ein kaledonischer Staat innerhalb des französischen Staates. Dieser beispiellose Status schafft die Möglichkeit einer gerechteren Zukunft für alle Bewohner Neukaledoniens. Doch die belastete Vergangenheit lässt sich nicht einfach durch Unterschriften unter einem noch so 'historischen' Abkommen auslöschen. Frei sich neu zu erfinden und zugleich gezeichnet von den erlebten Hürden, bewegt sich Neukaledonien nun auf einem schmalen Grat. Aber immerhin gibt es ihn, den schmalen Grat.“

Le Figaro (FR) /

Paris belohnt die Gewalt der Aufständischen

Das Abkommen wird Frankreich zerreißen, klagt der liberal-konservative belgische Politiker Alain Destexhe, der auch als Arzt in Neukaledonien tätig war, in Le Figaro:

„Was gestern noch als rote Linie galt, wird heute als 'historischer Kompromiss' gefeiert. … Wie schon bei den Unruhen in Frankreichs Vorstädten versucht die Regierung nicht, die Probleme zu lösen, sondern sie einzudämmen. Sie begnügt sich damit, den Deckel auf den Kochtopf zu setzen. Das Abkommen organisiert keinen Frieden, sondern ist ein Aufschub. ... Und dieser Präzedenzfall wird genau beobachtet werden: in Polynesien, auf den Antillen, in Mayotte, Korsika und sogar in der Bretagne. Der Staat hat einen Riss im Prinzip der republikanischen Einheit verursacht. … Die Unabhängigkeitsbefürworter haben gewonnen. Nicht an den Wahlurnen, sondern mit Gewalt.“

Tages-Anzeiger (CH) /

Experiment mit ungewissem Ausgang

Der Tages-Anzeiger staunt:

„Neukaledonien soll ein Staat in der Republik werden, mit fast allem drum und dran, Name, Fahne, Hymne, wenn die Inselbewohner das denn wollen. Sie wären dann Doppelbürger: Neukaledonier und Franzosen, Südpazifiker und Europäer, alles zusammen. … Es darf also gewissermassen unabhängig werden und dabei abhängig bleiben. Mal sehen, ob der Deal auch bei der Basis beider Lager durchkommt, sicher ist das nicht. Den Loyalisten geht der erzielte Kompromiss eher zu weit, den Kämpfern für die Unabhängigkeit nicht weit genug. Doch vielleicht ist das der sanfte Beginn einer weiteren Dekolonisierungswelle.“

Diena (LV) /

Neue Freiheit könnte bald an Grenzen stoßen

Diena fragt sich, ob der neue Staat sich am Ende nicht doch komplett von Frankreich lossagen wird:

„Es gibt viele Ähnlichkeiten mit der Entwicklung vieler europäischer Kolonien hin zu relativ unabhängigen Staaten in den 1960er Jahren. Eine andere Frage ist die langfristige Tragfähigkeit einer solchen Lösung. Derzeit ist ein solches Abkommen zweifellos ein bedeutender Erfolg für die Befürworter der Unabhängigkeit Neukaledoniens. Es ist jedoch unklar, was passieren wird, wenn sich herausstellt, dass die tatsächliche Unabhängigkeit und die Möglichkeit, wichtige Entscheidungen selbst zu treffen, nicht viel größer geworden sind. Höchstwahrscheinlich wird Neukaledonien dann versuchen, dem Beispiel ehemaliger französischer Kolonien in Afrika zu folgen.“

Radio Kommersant FM (RU) /

Sind die Korsen die nächsten?

Radio Kommersant FM sieht weitreichende Folgen:

„Für Frankreich ist das ein politisches Erdbeben. Bisher hatte kein Gebiet innerhalb seines Bestands jemals einen eigenen Staat, samt UN-Mitgliedschaft oder eigener Nationalität. Alle Bürger waren Franzosen. ... Dieses System kollabiert nun. ... Dabei muss sich dies nicht auf ferne Inseln beschränken. Nebenan liegt Korsika. ... Warum sollen sich die Korsen nicht daran erinnern, dass ihre Insel in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts von den Franzosen erobert wurde? Warum nicht jene Rechte einfordern, die gerade den Kanaken [Ureinwohner Neukaledoniens] zugestanden wurden? Generell gibt es viele potenzielle Krisenherde, erst recht, wenn Frankreichs geopolitische Gegner die Probleme noch anheizen sollten.“

Frankfurter Rundschau (DE) /

Berlin sollte sich ein Beispiel nehmen

Paris handelt vorbildlich, lobt die Frankfurter Rundschau:

„In Deutschland könnte man nun sagen: ist Frankreich, ist weit weg, ist lange her ... Aber die Bundesrepublik trägt ihre eigenen kolonialen Altlasten mit sich: Namibia allen voran, Tansania, Togo, Kamerun – alles mal kaiserliche Kolonien. Die Fairness würde es gebieten, diesen Ländern besonders großzügig, respektvoll und hilfsbereit entgegenzutreten. Nicht großkotzig, abweisend und ignorant, wie das so oft in der Nachkriegsgeschichte geschah. Und wie in Frankreich wäre auch eine intensivere deutsche Afrikapolitik von strategischem Wert – und neue Partnerschaften auf Augenhöhe würden die Demokratie fördern. Hier wie dort.“