Türkischer Einmarsch in Syrien: Europa machtlos?

Der am heutigen Donnerstag beginnende EU-Gipfel soll auch über das militärische Vorgehen der Türkei in Syrien beraten. Über ein EU-weites Waffenembargo oder andere Sanktionen hatten sich die Außenminister in der vergangenen Woche nicht verständigen können. Während einige Kommentatoren über eine zu lasche Reaktion klagen, finden andere, dass Kritik an Ankara unangebracht ist.

Alle Zitate öffnen/schließen
Jornal de Notícias (PT) /

EU dankt Drecksarbeit mit Schweigen

Erdoğan wird vom Ausland kaum kritisiert, empört sich die Parlamentsabgeordnete des linken Parteienbündnisses Bloco de Esquerda, Marianna Mortágua, in Jornal de Notícias:

„Die EU ignoriert wieder einmal eine ungerechtfertigte Invasion und einen weiteren Angriff auf die Menschenrechte und schützt gleichzeitig die Türkei. Letztendlich ist es genau dieser Erdoğan, der sich bereit erklärt, die Drecksarbeit Europas zu verrichten, indem er Konzentrationslager für syrische und andere Flüchtlinge errichtet. Ein echter Puffer für die EU, der es ihr ermöglicht, Proklamationen über Frieden und Menschenrechte fortzusetzen. Krieg suhlt sich gerne in Heuchelei.“

Ria Nowosti (RU) /

Europäer sollten besser den Mund halten

Für Ria Nowosti sollte sich die EU auch lieber jegliche Kritik verkneifen:

„Die türkischen Motive und Handlungen in Nordsyrien können unterschiedlich bewertet werden. Man kann sie zynisch und hart nennen. Und sie sind mit größter Vorsicht zu betrachten, schließlich hat Ankara nicht vor, in nächster Zeit die Souveränität der legalen syrischen Regierung über dieses Gebiet wieder herzustellen (was das Ziel von Damaskus und Moskau ist). Aber Erdoğan sieht allemal viel ehrlicher aus als das janusköpfige Europa, das ihm Handlungen vorwirft, die die Europäer für sich selbst in verschiedenen Erdteilen für absolut zulässig hielten. In diesem zweierlei Maß äußert sich wieder einmal klar die moralische Armut der heutigen EU.“

Artı Gerçek (TR) /

Es geht allein um den Machtausbau

Erdoğans einzige Motivation ist, sich die besten Bedingungen für seine Alleinherrschaft zu verschaffen, analysiert Artı Gerçek:

„Diese Operation deutet über die persönliche Gier eines Alleinherrschers hinaus. ... Vor allem anderen will er eine dauerhafte Präsidentschaft begründen. Mit Wahlen, Gesetzesänderungen und Dekreten geht das nur bis zu einem bestimmten Punkt. Und das reicht ihm ohnehin nicht, er kann noch immer nicht regieren, wie er will. Weil er mittlerweile Politik unter Ausnahmebedingungen machen kann, wird er immer höher pokern. Er wird also versuchen, noch außergewöhnlichere Zustände zu schaffen.“

Süddeutsche Zeitung (DE) /

EU hat noch Trümpfe in der Hand

Die EU muss ihre wirtschaftliche Stärke nutzen, fordert die Süddeutsche Zeitung:

„US-Präsident Donald Trump hatte Erdoğan die Zerstörung der türkischen Wirtschaft in Aussicht gestellt. Aus Brüssel bedarf es keines solchen Tweets an der Grenze zum Wahnsinn, um Erdoğan an seine ökonomische Verwundbarkeit zu erinnern. Die Abhängigkeit der Türkei vom Handel mit der EU ist offenkundig. Gerade weil er das weiß, droht Erdoğan damit, den Flüchtlingsdeal mit der EU aufzukündigen und Millionen Migranten den Weg nach Europa zu öffnen. Würden die Europäer dieser Erpressung nachgeben, käme das einer geopolitischen Selbstaufgabe gleich.“

Ethnos (GR) /

Zurzeit profitiert Putin

Assads Hauptverbündeter Putin ist zweifellos wieder einmal der große Gewinner, schreibt der Politikwissenschaftler Spyros Plakoudas in Ethnos:

„Russlands 'Aktien' auf dem 'geopolitischen Wertpapiermarkt' des Nahen Ostens sind stark gestiegen. Moskau stellt sich als ehrlicher 'Vermittler' aller kriegsführenden Fraktionen dar, der seine Verbündeten in der Not nicht verrät. Jetzt muss Russland natürlich eine Krise zwischen der Türkei und Syrien wegen Rojava verhindern. Vorläufig ist Putin jedoch der erfolgreichste Schachspieler seit 2015 im Syrienkrieg.“

De Standaard (BE) /

Diplomatischer Hochmut mit verheerenden Folgen

Europa hat sich zu lange weggeduckt, klagt De Standaard:

„Die Flüchtlingsproblematik ist ausweglos. Und das ist auch der Grund, warum der türkische Präsident Erdoğan seinen Angriff begonnen hat. Er reagiert damit auf das anhaltende Murren seiner Bürger über die Anwesenheit von Millionen geflohener Syrer. Die Europäische Union hält gerne die Probleme weit außerhalb ihrer Grenzen. ... Die Flüchtlinge sollen lieber in der Türkei bleiben, genau wie die westlichen IS-Kämpfer lieber irgendwo anders vor Gericht gestellt werden sollen. Zu keinem Zeitpunkt hat man sich gefragt, ob diese Länder überhaupt den Herausforderungen gewachsen sind. Europa klingt jetzt nicht nur diplomatisch überheblich, sondern hat auch keinerlei Einfluss mehr auf die Ereignisse.“

Kristeligt Dagblad (DK) /

EU muss selbst aktiv werden

Die EU kann sich nicht länger darauf verlassen, dass Trump die Angelegenheiten regelt, mahnt Kristeligt Dagblad:

„Wenn Europa seine eigene Sicherheit und seine eigene Existenz wirklich ernst nehmen will, dann muss jetzt etwas passieren. Das gilt für das Verhältnis zur Türkei: Hier ist die Frage, wie lange wir uns auf einen Kuhhandel mit Erdoğan à la Trump verlassen wollen. Der türkische Präsident zögert nicht, ihn gegen uns zu verwenden. Das gilt für das Thema Syrien und andere heiße Konflikte in der Region, wo wir von europäischer Seite viel aktiver eingreifen müssen, weil es zum einen um humanitäre Katastrophen geht und selbstverständlich auch, weil es in unserem Interesse ist, die enormen Flüchtlingsströme zu vermeiden, die Krieg und Unfrieden folgen.“

Neatkarīgā (LV) /

Nicht mehr auf die USA verlassen

Lettland sollte nun seine außenpolitischen Prioritäten ändern, meint Neatkarīgā:

„Ein kleines Land, weit entfernt von den USA, sollte sich nicht auf ewige Freundschaft mit den Vereinigten Staaten verlassen. ... Lettland kann ein größeres Verständnis und gemeinsame Werte von der EU erwarten. Eine der wichtigsten gemeinsamen Werte der EU ist die gegenseitige Solidarität. Unsere jüngsten Erfahrungen zeigen, dass die EU-Mitgliedsstaaten nicht nur in guten, sondern auch in schlechten Zeiten solidarisch sind. Die Wirtschaftskrise von 2008 ist ein gutes Beispiel dafür.“

La Repubblica (IT) /

Terrorgefahr selbst eingebrockt

Seit Beginn der türkischen Militäroperation soll einigen von Kurden inhaftierten IS-Kämpfern die Flucht gelungen sein. Nun rächt sich die fahrlässige Politik Europas, schimpft der Islam-Experte Renzo Guolo in La Repubblica:

„Mehr als 2.000 der Inhaftierten sind Europäer. Es wird befürchtet, dass ein Teil von ihnen nach Europa zurückkehren könnte. Mit erheblichen Sicherheitsrisiken. ... Das hätte vermieden werden können, wenn die europäischen Staaten die Dschihadisten nicht in den Händen der Kurden gelassen, sondern sie nach Hause zurückgeführt hätten, um sie in ihren Herkunftsländern vor Gericht zu stellen und ihre Strafe verbüßen zu lassen. ... Stattdessen setzte sich die Idee durch, sie ihrem Schicksal zu überlassen. Dritten zu überlassen, in oft improvisierten, überfüllten Gefängnissen, in denen eine interne Kontrolle so gut wie unmöglich war.“

Karar (TR) /

Ein riskantes Spiel

Die Türkei lässt sich hier auf ein Vorhaben ein, dem sie höchstwahrscheinlich nicht gewachsen ist, befürchtet Karar:

„Die Türkei will den Einfluss der Kurden in der großen Region, die bis in den Osten und Süden Syriens reicht, eindämmen und eine Art Vormundschaftssystem errichten. Dies birgt die Risiken, dass man es sich abgesehen von Trump auch mit dem US-Kongress, Großbritannien und der EU verscherzt, aus der Nato ausgeschlossen und noch weiter Richtung Russland und Iran gedrängt wird und dass man mit Syrien in einen Krieg gerät, den man am Ende verlieren könnte. ... Das ist ein großes politisches Spiel. Ganz abgesehen davon, ob der Einsatz richtig oder falsch ist, muss ernsthaft diskutiert werden, ob die Türkei überhaupt über die notwendigen Mittel verfügt, dieses Spiel fortzusetzen.“

Al Ghad (JO) /

Erdoğan droht das Saddam-Hussein-Szenario

Für den jordanischen Kolumnisten Maher Abou Tair ist die westliche Kritik am türkischen Einmarsch unehrlich, wie er in der Tageszeitung Al-Ghad schreibt:

„Die türkische Militärinitiative stößt weltweit auf große Kritik, trotz der negativen Haltung gegenüber dem syrischen Regime. Plötzlich scheint sich die internationale Gemeinschaft Gedanken um die Einheit des syrischen Staatsgebietes und den Schutz der Zivilbevölkerung zu machen. Doch das sind nur Slogans von Blendern. Die wahre Absicht dahinter ist die, Erdoğan loszuwerden. Die Türkei steht vor der gleichen Situation wie Saddam Hussein 1990, als der irakische Machthaber in Kuwait einmarschierte. Die Türkei steht vor einem Scheideweg.“

Politis (CY) /

Invasion und Besatzung mit dem Segen der Welt

Der zyperntürkische Kolumnist Şener Levent beschriebt in Politis die Strategie Erdoğans:

„Er wird einen Völkermord begehen! Erdoğan kündigte seinen Plan bei der Uno an, während er allen in die Augen sah. Die Invasion und die Besetzung sind von der Welt nun legalisiert. ... Der Mann listete auf, was er nach der Invasion tun würde. ... Er wird Häuser bauen, sagt er. Schulen. Moscheen. Und schaut mal, wie frech er ist! Er verlangt dafür Gelder von Europa. Wenn Europa sich gegen diese Militäroperation stellt, wird die Türkei ihre Tore öffnen und drei Millionen syrische Flüchtlinge nach Europa schicken! Bedrohung! Erpressung! Diese wurde auch legalisiert.“

Zeit Online (DE) /

Europas Hilflosigkeit ist selbstverschuldet

Die Europäer beschränken sich wieder einmal auf bloßes Mahnen und Schimpfen, kritisiert Zeit Online:

„Zeigefinger hoch! Sprechblasen raus! Hinter der moralischen Überlegenheit verbirgt sich pure Hilf- und Machtlosigkeit. Dabei hatten die Europäer durchaus die Möglichkeit, in Nordsyrien eine wichtigere Rolle zu spielen. Die Amerikaner haben vor Monaten um europäische Hilfe vor Ort gebeten. ... Europa hat es aus Schwäche versäumt, im wohlverstandenen Eigeninteresse zu handeln. Jede Erschütterung im Nahen Osten hat direkte Auswirkungen auf Europa, darum sollten die Europäer ein Mitspracherecht haben. Das aber kriegen sie nicht geschenkt, das müssen sie sich erkämpfen.“

Jutarnji list (HR) /

USA entpuppen sich als unzuverlässiger Partner

Dadurch, dass Trump die kurdischen Verbündeten der Gnade der Türkei überlässt, riskiert er die Glaubwürdigkeit der USA, meint Jutarnji list:

„Entscheidungen werden im Weißen Haus ohne klare Kriterien gefällt, nach den Launen von Präsident Donald Trump, ohne Rücksicht auf eventuelle Folgen für US-Interessen. ... Seine Entscheidung kritisieren selbst Trumps loyalste Anhänger, selbst Fox News. Denn Trump überschritt damit eine gefährliche Grenze: Er zeigt, dass Amerika ein unzuverlässiger Partner ist. Obwohl die Republikaner ihren Präsidenten im Weißen Haus haben möchten und seine konservativen Standpunkte unterstützen, sind sie bei einer Sache nicht zu Kompromissen bereit: dem Einfluss der USA als relevante Weltmacht und ihr Ansehen als treue Alliierte seiner internationalen Partner.“

Ilta-Sanomat (FI) /

Gefährliche Einlösung eines Wahlversprechens

Die USA lassen ihre Verbündeten in Syrien im Stich, kritisiert Ilta-Sanomat:

„Die größte Verwirrung in diesem zynischen Machtspiel verursacht Präsident Donald Trump, denn die syrischen Kurden waren Verbündete der USA im Kampf gegen den IS. Die Entscheidung Trumps, die US-Streitkräfte nach Hause zu holen und der Türkei den Weg frei zu machen, ist ein Dolchstoß in den Rücken eines vertrauenswürdigen Verbündeten. Wer kann Trump klar machen, dass die Einhaltung des Wahlversprechens zu dieser Zeit ihm selbst mehr schadet als nützt?“