Geht der Brexit wieder in die Verlängerung?

Das britische Unterhaus hat Premier Johnsons Brexit-Zeitplan eine Absage erteilt. Zuvor hatte es dem ausgehandelten Deal mit der EU am Dienstagabend zugestimmt. Johnson legte das Austritts-Verfahren auf Eis, um eine Reaktion der EU abzuwarten. Nun ist die Frage, ob die EU einschlägt und die bereits am Samstag beantragte Verlängerung gewährt.

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The Daily Telegraph (GB) /

EU hat die Seiten gewechselt

The Daily Telegraph beobachtet eine neue Allianz zwischen Johnson und der EU:

„Die Brexit-Gegner geben nicht auf und werden nun noch hinterhältiger gegen das Austrittsabkommen kämpfen. Sie werden die Verzögerung, die sie bewirkt haben, nutzen, um das Abkommen zu ändern und zu schwächen. ... Doch etwas Entscheidendes hat sich geändert: Die EU ist nicht mehr mit ihnen verbündet. Sie will jetzt mit Johnsons Regierung zusammenarbeiten, um genau diesen Deal durchzubringen. Sie ist nicht bereit, weitere Forderungen und Kompromisse zu diskutieren. Die EU hat das einst mit Theresa May vereinbarte Austrittsabkommen neu verhandelt - obwohl sie behauptet hatte, dass sie das nie tun würde. Sie wird das nicht nochmals erwägen. Das ist wirklich das Ende.“

Irish Examiner (IE) /

Europäer verlieren Geduld mit Briten

Dass die EU-27 einer weiteren Brexit-Verschiebung zustimmen, ist keine ausgemachte Sache, warnt Irish Examiner:

„Auch wenn eine Verschiebung unvermeidlich scheint, sollte niemand unterschätzen, wie angespannt diese Debatte unter den politischen Anführern der EU werden könnte. Die Situation ist ganz anders als zu der Zeit, als Theresa May an der Macht war. Damals klagten radikale Brexit-Anhänger, dass May schlecht verhandelt habe. Sie brüsteten sich, selbst ein besseres Abkommen mit Brüssel erreichen zu können. Doch nun machen die Brexit-Anhänger nicht mehr die EU für etwas verantwortlich, das offensichtlich ein britisches Problem ist: Die Unfähigkeit des Parlaments zu entscheiden. Emmanuel Macrons Ungeduld mit London greift auf andere politische Anführer in der EU über. ... Es gibt einen Punkt, an dem unendliche Verzögerungen als kostspieliger erachtet werden als kein Abkommen.“

La Stampa (IT) /

Das Wort der Stunde: Order!

John Bercow sorgt für Ordnung, wenn auch nicht ganz unparteiisch, analysiert La Stampa:

„Wer weiß, wo der Brexit-Prozess heute ohne Bercow wäre. Der Unterhaussprecher muss neutral sein und seine Partei verlassen, wenn er ins Amt gewählt wird. Aber viele werfen Bercow vor, sich auf die Seite des 'Remain' zu stellen, für das er im Referendum gestimmt hat. Die ihm übertragenen Befugnisse erlauben es ihm sicherlich, die Debatte zu leiten: Er ist es, der den Abgeordneten das Wort erteilt, und mahnend für Ordnung sorgt. 'Order. Order!', hat niemand lauter gerufen als er. Heute geht die Brexit-Schlacht in Westminster in die nächste Runde. … Die Regierung hat die Veröffentlichung des Textes des Abkommens angekündigt, damit sie am Nachmittag mit der Abstimmung darüber beginnen kann. ... Unter Bercows wachsamen Auge.“

Berlingske (DK) /

Johnson kann doch pragmatisch sein

Dass Boris Johnson mit dem Rücken zur Wand Kompromisse in der Nordirland-Frage eingegangen ist, wertet Berlingske als gutes Zeichen:

„Nun sieht es so aus, als ob Labour-Mitglieder seinem Abkommen eine Mehrheit verschaffen könnten. Wenn das gelingt, hätte Johnson gezeigt, dass er die nötige politische Stärke hat, einen Kompromiss durchzubringen. ... Es wäre richtig, das Abkommen zum Gegenstand einer neuerlichen Volksabstimmung zu machen. ... Aber aus Sicht der EU können wir zumindest schon froh sein, dass Johnson die Bereitschaft zu Pragmatismus gezeigt hat. In den Verhandlungen zwischen der EU und Großbritannien, die im Falle eines tatsächlichen Austritts anstehen, wird es massenhaft Vernunft und Pragmatismus brauchen.“

Tygodnik Powszechny (PL) /

Einer gewinnt immer

Egal, welches Ergebnis am Ende des Brexit-Prozesses steht - der Gewinner steht schon fest, glaubt Tygodnik Powszechny:

„Jetzt kann Boris Johnson das machen, was ihm bisher immer am meisten genutzt hat: Er beschuldigt die Opposition und das Parlament, den Willen der Öffentlichkeit zu blockieren. ... Weder Massendemonstrationen in London gegen den Brexit, noch das mögliche Scheitern (und noch weniger das Überzeugen weiterer Abgeordneter) werden dem Ministerpräsidenten politisch schaden können. Es wäre für ihn jetzt sogar einfacher, im Falle von vorgezogenen Wahlen Unterstützer zu finden, da sowohl britische als auch europäische Politiker den Brexit gerne hinter sich lassen würden. “

tagesschau.de (DE) /

Hasardeur nicht davonkommen lassen

Die EU-Mitglieder sollten jetzt die Nerven behalten und dem Verlängerungsantrag zustimmen, mahnt tagesschau.de:

„Die Europäische Union sollte sich daran erinnern, dass es in ihrem eigenen Interesse liegt, einen ungeregelten Austritt der zweitgrößten europäischen Volkswirtschaft zu vermeiden. Das Nein eines einzigen Mitgliedslandes würde ausreichen, um eine weitere Verschiebung zu Fall zu bringen und damit möglicherweise einen ökonomischen Crash, einen No-Deal-Brexit am 31. Oktober zu provozieren. Und Johnson könnte anschließend sagen, die EU habe zusammen mit dem britischen Parlament das Land in den wirtschaftlichen Abgrund gestürzt. Das sollte nicht passieren. So einfach sollte man diesen Hasardeur nicht davonkommen lassen.“

La Croix (FR) /

Europäer sind Johnsons beste Verbündete

Dass Boris Johnson seine Chaos-Politik fortsetzen kann, verdankt er seinen europäischen Partnern, erklärt La Croix:

„Es sind viel weniger seine 'Talente', die dem britischen Premier helfen werden, aus der Brexit-Sackgasse herauszufinden, als ein neues Wohlwollen der europäischen Verantwortungsträger. Gewähren sie ihm einen weiteren Aufschub? Boris Johnson verkündet, keinen zu benötigen, indem er versichert, die Einigung vom britischen Parlament innerhalb der Fristen absegnen zu lassen. Diejenigen, die maßlos auf Kühnheit setzen, stützen sich oft auf geduldigere und schlauere Partner. So kann Boris Johnson weiter als Springinsfeld agieren, da die Europäer vernünftig bleiben. In diesem Zusammenhang erweisen sie sich als seine besten Verbündeten.“

The Guardian (GB) /

Briten sollten neu abstimmen dürfen

Wenn das Volk nochmals entscheiden kann, besteht die Chance, dass Großbritannien doch noch in der EU bleibt, hofft der Historiker Timothy Garton Ash in The Guardian:

„Der Brexit kann in keiner Ausprägung zu etwas Gutem führen. Doch der am wenigsten schlechte Weg ist jener, bei dem Großbritannien bei einer zweiten Volksabstimmung für den Verbleib in der EU stimmt. Und dazu wird es am ehesten dann kommen, wenn das Parlament Johnsons Deal unter der Voraussetzung bestätigt, dass es eine Volksabstimmung gibt. Bei dieser müssten die Briten eine bindende und endgültige Entscheidung treffen: Soll das Land die EU unter den von dieser Regierung ausgehandelten Bedingungen verlassen oder in der EU bleiben? ... Wie absurd wäre es doch, wenn Großbritannien die EU verlässt, um dem 'Volkswillen' genüge zu tun, wenn laut Umfragen nun eine Mehrheit jetzt für den Verbleib in der EU ist.“

Jutarnji list (HR) /

Wähler verzeihen ihrem Premier alles

Jutarnji list wundert sich, wie der britische Premier immer wieder mit allem durchkommt:

„Dass man Johnson nicht trauen kann, ist schon wohlbekannt. Das haben die Medien erkannt, die ihn gefeuert haben, weil er Tatsachen in Artikeln erfand. Die Liebhaberinnen, die er mit anderen Frauen hinterging. Und auch die irischen Unionisten, denen er ein Messer in den Rücken rammte mit einem neuen Abkommen. Vorgestern sagte er eiskalt im Parlament, man könne gleichzeitig die Arbeiterrechte schützen und die Gesetze abschaffen, die sie schützen. Er überzeugte die Konservativen, dass nach dem Brexit das deregulierte Utopia wartet und die Labours, dass sich Großbritannien an alle Standards der EU halten wird. ... Das einzige Gericht, das er anerkennt, sind Wahlen und seine Wähler verzeihen ihm bisher alles.“

Aftonbladet (SE) /

EU dank Brexit beliebt wie nie

Das Brexit-Drama hat für die EU auch Vorteile, glaubt Aftonbladet:

„Die Frage ist, ob die EU, die sich ja seit Langem mit ihrer Legitimation bei den Bürgern herumschlägt, nicht vom Brexit profitieren kann. Der Brexit und die Probleme, die Großbritanniens Austritt für die Wirtschaft des Landes und für die Bürger bedeuten wird, haben letztlich die Vorteile einer EU-Mitgliedschaft beleuchtet. Noch nie seit 1983 war die Unterstützung für die EU so hoch. 68 Prozent der Bürger finden, die Mitgliedschaft in der Union ist für ihr Land von Nutzen. Und eine Mehrheit gibt an, gegen einen Austritt zu stimmen, wenn es in ihrem Land ein Referendum gäbe.“