Wie geht der Krieg gegen die Ukraine weiter?

Neun Monate nach Beginn des russischen Kriegs gegen die gesamte Ukraine hat Selenskyj in seiner täglichen Videobotschaft den Widerstandsgeist seines Landes beschworen. Auch die schweren russischen Angriffe auf die ukrainische Energieinfrastruktur werden das Land "nicht brechen". Europas Presse analysiert die Ausgangslage für den beginnenden Winter.

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Aargauer Zeitung (CH) /

Kyjiw hat gute Karten

Wegweisende Wochen und Monate stehen bevor, analysiert Kurt Pelda, Ukraine-Kriegsreporter der Aargauer Zeitung:

„Mit dem einbrechenden Winter sagen manche Experten im Westen nun ein Einfrieren des Konflikts voraus. Mit grosser Sicherheit werden die Ukrainer ihre Serie von Siegen aber fortsetzen wollen, solange Russland mit der Mobilisierung dringend benötigter Kämpfer beschäftigt ist. Im Winter gefrieren viele Böden, was nach der herbstlichen Schlammsaison wieder den Einsatz von Kampfpanzern im freien Gelände ermöglicht. Die Ukrainer haben vom Westen Hunderttausende Winteruniformen erhalten, und auch sonst scheint der Nachschub via Polen und Rumänien zu funktionieren. Die Russen kämpfen dagegen mit logistischen Problemen, schlechter Moral und Korruption.“

La Stampa (IT) /

Die Stunde der Wahrheit

Auch für La Stampa beginnt eine neue Phase des Kriegs:

„Auf die relative Pattsituation im Donbas nach den jüngsten ukrainischen Vorstößen folgt der russische Angriff auf das 'Brudervolk', um den ukrainischen Widerstand zu schwächen und zur Kapitulation zu zwingen. Die Temperaturen werden bald sinken und in ein paar Monaten, so hat Putin berechnet, wird Selenskyj gezwungen sein, sich zu ergeben. Oder er wird gestürzt werden. An diesem Punkt hängt viel von den Entscheidungen des Westens ab. … Doch in den letzten Wochen haben sich die Signale aus Washington an die Ukrainer vervielfacht, auf Verhandlungen einzugehen. Nach Einschätzung des Pentagons ist ein vollständiger Sieg, also die Rückeroberung der Krim und des Donbas, unmöglich.“

Die Presse (AT) /

Unbeugsame Ukrainer

Die Widerstandskraft der ukrainischen Bevölkerung lässt sich nicht so leicht brechen, beobachtet Die Presse:

„Die Infrastruktur-Attacken begreift man als neue Phase eines längeren Krieges, gegen die man gerüstet sein muss. ... Gegen die bösartigen Raketenangriffe ist niemand gefeit. Deshalb mobilisieren sie auch jeden Einzelnen. Der Ukraine stehen sehr harte Wochen und Monate bevor. Es ist zu befürchten, dass Putins rücksichtslose Kriegsführung viele zivile Leben fordern könnte. ... Die Ukrainer haben in den vergangenen Monaten mehr als einmal bewiesen, dass sie den Lauf der Ereignisse zu ihren Gunsten beeinflussen können. Gut möglich also, dass das Land noch unbeugsamer aus diesem Winter hervorgeht als bisher.“

Mediafax (RO) /

Der dritte Weltkrieg hat längst begonnen

Der Westen hat den Ernst der Lage nicht begriffen, ätzt Mediafax:

„Putin und seine Generäle können sich keine Niederlage leisten. Den Krieg zu verlieren, bedeutet für sie, ihr Leben zu verlieren. Hinter dem Rückzug aus Cherson muss also etwas Schlimmeres stecken. Auf die russischen Angriffe auf die Energie-Infrastruktur der Ukraine hat der naive Westen wieder keine Antwort. ... Während man sich in Europa auf die Weihnachtsmärkte vorbereitet, begreift man immer noch nicht, dass der dritte Weltkrieg längst begonnen hat. Denn die 'Spezialoperation' hat die Grenzen der Ukraine überschritten und schreitet mit der Geschwindigkeit des elektrischen Stroms in den Leitungen voran.“

Andrej Loschak (RU) /

Finsternis ist Russlands Exportgut Nr. 1

Dokumentarfilmer Andrej Loschak schlägt auf Facebook einen Bogen von den dunklen Straßen in Kyjiw zu Russlands moralischem Fiasko:

„Russlands Raketen versenken die Ukraine in Dunkelheit. Russland selbst lebt seit langem in der Finsternis und zieht nun hartnäckig die sich verzweifelt wehrenden Ukrainer mit hinein. Seit Beginn der Energie-Sanktionen ist die Finsternis zum wichtigsten russischen Exportartikel geworden. ... Russland hat keine einzige Idee, wie man die Welt besser machen könnte. ... Ganz gleich, wie viele Bomben die russische Armee auf das Energiesystem der Ukraine wirft, das Land wird eine strahlende Zukunft haben - während die Russen einen endlosen Horrortrip erleben, einen langen und qualvollen Sturz ins Herz der Finsternis.“

Blog Damijan (SI) /

Maximalforderungen aufgeben

Selenskyj sollte Kompromisse eingehen, fordert der Wirtschaftswissenschaftler Jože P. Damijan in seinem Blog:

„Selenskyj besteht auf dem vollständigen Rückzug Russlands aus den besetzten Gebieten, einschließlich der Krim, und der Wiederherstellung der ursprünglichen Situation. Bei solchen Ausgangspunkten kann es natürlich erst gar nicht zu Verhandlungen kommen. ... Es ist klar, dass Russland der Aggressor in diesem Krieg ist (ungeachtet der Tatsache, dass es sich tatsächlich um einen Stellvertreterkrieg mit den USA handelt), aber ist es wirklich notwendig, dass Selenskyj Millionen unschuldige Leben für ein Ziel opfert, das unter keinen Umständen erreicht werden kann?“