Abgebrochener Wagner-Aufstand: Was folgt?

Statt wie bislang mit den russischen Truppen Krieg gegen die Ukraine zu führen, befahl Wagner-Chef Prigoschin seinen Kämpfern am Wochenende einen Marsch auf Moskau. Putin sprach zunächst von Verrat und Bestrafung. Stunden später wurde der Vormarsch abgebrochen. Prigoschin soll straffrei bleiben. Kommentatoren erörtern die Tragweite des unerwarteten Ereignisses für Russland und den weiteren Kriegsverlauf.

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Primorske novice (SI) /

Putin bleibt im Sattel

Der Ausgang des Marsches auf Moskau bestätigt den bisherigen Kurs des Kremls, analysiert Primorske Novice:

„Die Wagner-Gruppe wird sich teilweise verändern, da Putin ihre Dienste braucht – nicht nur in Belarus, sondern auch in afrikanischen Ländern und anderswo. Es ist auch nicht zu erwarten, dass die demokratische Opposition das Putin-Regime stürzen wird. Seine Gegner sitzen meist im Ausland oder in Gefängnissen, andere haben sich opportunistisch an das autoritäre Regime angepasst, oder sie kümmern sich nur ums Überleben. Solange es keine Hungersnot oder wirklich große Niederlagen an der Front gibt, hat Putins Regime nichts zu befürchten.“

El Periódico de España (ES) /

Pekings Schweigen ist Kalkül

El Periódico de España beobachtet Chinas Reaktion:

„China wird seine strategische Allianz mit Russland überprüfen. Pekings Schweigen auf Moskaus 'Anti-Terror-Maßnahmen' ist bezeichnend. Das ist Kalkül, denn niemand kann die Folgen der Provokation durch die Söldner abschätzen oder wissen, wie sie Putins Macht untergraben könnten. Es ist ein notwendiges Kalkül, wenn China und andere Akteure die Gelegenheit nutzen wollen, um den Krieg durch Verhandlungen zu beenden - selbst wenn Russland sich weigern sollte, weil Prigoschin viele seiner Großmachtattribute in Frage gestellt hat. Der Krieg in der Ukraine ist jetzt mehr denn je auch ein Krieg in Russland.“

Lietuvos rytas (LT) /

Ukraine-Verbündete können Lage nicht nutzen

Wie sich der Westen jetzt verhalten sollte, fragt Lietuvos rytas:

„Sollte er sich aus dem Gemetzel heraushalten und vielleicht sogar das derzeitige Regime stützen, um dessen Angst und Verzweiflung zu seinem eigenen Vorteil auszunutzen? Oder sollte er im Gegenteil so weit wie möglich alle Kräfte innerhalb des Regime-Apparats fördern und ermutigen, die eine echte Herausforderung für die derzeitige Regierung darstellen? Es sollte die zweite Option sein. Dies erfordert jedoch möglichst detaillierte Informationen über die Vorgänge innerhalb des Regimes und natürlich eine proaktive Politik und Maßnahmen auf deren Grundlage. Leider haben wir am vergangenen Wochenende sowohl in Litauen als auch in den wichtigsten westlichen Hauptstädten gesehen, dass beides nicht ausreichend vorhanden ist.“

Echo (RU) /

Götterdämmerung im Kreml

Oppositionspolitiker Lew Schlosberg sieht in einem von Echo übernommenen Telegram-Post Putins Allmacht demontiert:

„Ein enormer Teil der Gesellschaft verfolgte das Geschehen nicht mit Entsetzen, sondern mit Neugierde: 'Schau einer an, man kann Putin stürzen. Was soll's, wir haben unter Putin gelebt, dann leben wir halt unter Prigoschin.' Das ist nicht nur politischer Infantilismus, sondern auch tiefe Gleichgültigkeit gegenüber Putins Schicksal. ... Putin war ein Bewohner des Olymps, ein Göttlicher, der keine Fehler machen, nicht verlieren und nicht schwach sein konnte. All dies ist am 24. Juni 2023 kollabiert. ... Der Mythos Putin zerbröckelt vor unseren Augen, und das ist die größte Bedrohung seiner Macht. Ein Koloss kann nur eisern sein. Auf tönernen Füßen hält er sich nicht.“

Olexandr Kowalenko (UA) /

Niemand steht als Gewinner da

Bei diesem Machtduell haben beide verloren, meint Militärexperte Olexandr Kowalenko auf seiner Facebook-Seite:

„Das war ein Meilenstein in der Geschichte des Zerfalls der russischen Staatlichkeit. Und diesen hat ein feiger Ex-Sträfling gesetzt. ... Normalerweise blamiert sich in einer solchen Situation einer der Konfliktpartner, in der Regel der Verlierer. Aber in diesem Fall haben sich beide blamiert. Putin, ein vom Internationalen Strafgerichtshof gesuchter Kriegsverbrecher, hat seine Schwäche, seine geringe Bedeutung, seine Angst und seinen Kontrollverlust gezeigt. Jeder hat gesehen, dass Putin nicht in der Lage ist, die Situation im Lande zu kontrollieren.“

Politiken (DK) /

Hoffentlich der Anfang vom Ende Putins

Der Wagner-Aufstand könnte eine Zeitenwende für Russland markieren, meint Politiken:

„Auch wenn es ihm gelungen ist, Prigoschin zurückzudrängen, hat Putin in diesen Tagen eine entscheidende Niederlage erlitten. Denn der Wagner-Aufstand zeigt nicht nur, dass Putin die eigenen Truppen nicht unter Kontrolle hat. Er ist auch eine Folge dessen, dass sich die Ukraine und das westliche Militärgerät Russland gegenüber als überlegen erwiesen haben. ... Man erinnere sich, dass der Erste Weltkrieg zum Sturz des Zaren führte, dass die Invasion in Afghanistan der Anfang vom Ende der Sowjetunion war. Möge sich die Welt eines Tages daran erinnern, dass der Ukraine-Krieg Putin zu Fall brachte.“

La Repubblica (IT) /

Mussolini lässt grüßen

La Repubblica zieht einen Vergleich mit dem Marsch auf Rom im Jahr 1922:

„Der Duce verzögerte ihn de facto drei Tage lang, weil seine Drohung ausreichte, um den König dazu zu bringen, ihn an die Spitze der Regierung zu berufen. ... Es genügte, diesen umstürzlerischen Marsch zu starten, um den Staat dazu zu bringen, die Macht abzugeben. ... In diesen beiden Fällen - die sich stark voneinander unterscheiden - haben wir es weniger mit einem Staatsstreich zu tun als mit seiner beeindruckenden Zurschaustellung. Wir haben es also mit einer politischen Nutzung des Aufstands zu tun, der als heroischer und dramatischer Rahmen für den Kampf um das Kommando inszeniert wird.“

Financial Times (GB) /

Kyjiw kann jetzt Zweifler überzeugen

Die Ukrainer gehen aus dem Vorfall in mehrerlei Hinsicht gestärkt hervor, erklärt Financial Times:

„Sie könnten sich nun entscheiden, Reservetruppen für die Gegenoffensive einzusetzen. Außerdem erhalten sie zusätzliche Argumente für ihre Sache, die sie ihren Freunden im Westen beim Nato-Gipfel im kommenden Monat vorlegen können. Jene Verbündeten, die stillschweigend angedeutet hatten, dass Russland nicht besiegt werden könne und dass die Ukraine mit Putin verhandeln solle, werden vorerst schweigen. Im Gegensatz dazu werden Putins internationale Unterstützer ihre eigene Haltung grundlegend hinterfragen und jetzt aktiv über Post-Putin-Szenarien für Russland nachdenken.“

Contributors (RO) /

Putin kämpft in der Ukraine um sein Überleben

Der Krieg gegen die Ukraine bekommt für Putin jetzt noch einen höheren Stellenwert, so der Politikanalyst Ioan Stanomir auf Contributors:

„Das Putin-Regime, so verfallen und verkommen es auch sein mag, verfügt über ein militärisches Monopol, das jetzt gefestigt wird. Die Privatarmeen werden schließlich in der Staatsarmee aufgehen. Und der Krieg in der Ukraine ist nach wie vor die Daseinsberechtigung für den Putinismus: Ein Scheitern in der Ukraine wäre die Inschrift auf dem Grabstein des Diktators. Trotz Verlusten und Zermürbung scheint Putins Russland gewillt zu sein, den Krieg fortzusetzen. Russland kann keine andere Form akzeptieren als ein Imperium zu sein. Putins russisches Imperium kämpft an der ukrainischen Front um sein Überleben.“

Le Monde (FR) /

Europa muss sich vorbereiten

Militärhistoriker Cédric Mas ruft in Le Monde dazu auf, sich auf einen Zusammenbruch Russlands vorzubereiten:

„Ein Zusammenbruch von Putins Regime, der das Land in Bürgerkrieg und Chaos stürzen würde, wäre eine große Bedrohung für die Sicherheit Europas und der Welt. Allerdings sind die Regeln des Völkerrechts nicht an eine solche Krise angepasst. ... Daher ist es wichtig, über einen rechtlichen Rahmen und über praktische Mittel nachzudenken, die einen Notfall- und Schutzeingriff einer Truppe unter Uno-Schirmherrschaft ermöglichen würde, um zivile und militärische Atomstandorte in einem zusammengebrochenen Staat zu sichern. … Die gestrigen Ereignisse bieten uns die Chance, uns auf das Schlimmste vorzubereiten, um das Schlimmste zu verhindern. … Es liegt an uns, diese Chance zu ergreifen.“

Milliyet (TR) /

Selbst gezüchteter Feind im Land

Staaten, die auf militärische Organisationen außerhalb der offiziellen Streitkräfte setzen, gehen ein großes Risiko ein, beobachtet Milliyet:

„Sie haben die allmählich wachsende Popularität dieser Unternehmen bei der Öffentlichkeit im eigenen Land nicht berücksichtigt. Damit ist ein ganz neues Problem entstanden. Wenn sie einmal gefestigt sind, knüpfen diese Organisationen Beziehungen zu verschiedenen Machtzentren, Geschäftsleuten und Oligarchen im Land und beginnen, sich im Rahmen ihrer Macht in die Politik des Landes einzumischen. Eine ähnliche Situation ereignete sich vor einigen Monaten im Sudan.“