Bergkarabach: Verhandlungen über Zukunft der Armenier

Nachdem der aserbaidschanische Präsident Ilham Alijew den Sieg über Bergkarabach erklärt hat, ist eine erste Verhandlungsrunde über die Zukunft der mehrheitlich von Armeniern bewohnten Region zunächst ohne Ergebnis beendet worden. Die Gespräche zwischen Vertretern beider Parteien drehten sich insbesondere um die Frage der Sicherheit und Versorgung der Bevölkerung. Haben sich gewohnte Kräfteverhältnisse grundlegend verschoben?

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France Inter (FR) /

Epochenwechsel im Kaukasus

Mit den Verhandlungen beginnt eine neue Ära, analysiert Kolumnist Pierre Haski in France Inter:

„Auf der Tagesordnung stehen die Entwaffnung der Enklave sowie die Wiedereingliederung Bergkarabachs in das Staatsgebiet Aserbaidschans. Doch zu welchen Bedingungen, mit welcher Zukunft für die Armenier in Bergkarabach, mit welchen Garantien? Das sind bedeutungsschwere Fragen, da eine ethnische 'Säuberung' droht. Die geopolitischen Veränderungen sind noch weitreichender. Die Macht Paschinjans in Jerewan ist angesichts der Wut eines Teils der Öffentlichkeit nicht gesichert. ... Ein Gewaltstreich ist nicht auszuschließen. Zudem stellt sich die Frage nach dem Einfluss Russlands in diesem neuen Kräfteverhältnis. ... Die 24 Stunden Kämpfe haben die Lage im Kaukasus verändert.“

Trouw (NL) /

Russlands Macht bröckelt

Der Sieg von Aserbaidschan über Bergkarabach ist auch eine Folge des Ukrainekrieges, meint Trouw:

„Russland kann jetzt durch den großflächigen Krieg in der Ukraine nicht an verschiedenen Fronten kämpfen und will sicher keinen Streit mit Aserbaidschan. So führt der Krieg in der Ukraine zu politischer und militärischer Instabilität entlang der russischen Grenzen im Kaukasus und weiter nach Asien. Russland kann den angrenzenden Ländern nicht mehr ohne Weiteres seine Macht aufzwingen. Die Karten werden in dieser Hinsicht neu gemischt. Für das bitterarme Armenien, militärisch und wirtschaftlich abhängig von Russland, gilt das aber nicht.“

Tages-Anzeiger (CH) /

Spielball zu vieler Interessen

Für den Tages-Anzeiger ist klar, dass Aserbaidschan mit Erdoğans Rückendeckung handelte:

„Für die Türkei ist Aserbaidschan das Tor in den Kaukasus; Recep Tayyip Erdogan hat schon beim Waffenstillstand vor drei Jahren mitverhandelt. Damals ging es auch um einen Korridor mitten durch Armenien zur aserbaidschanischen Exklave Nachitschewan. Armenien liegt genau zwischen Aserbaidschan und der Türkei – es liegt beiden im Weg. Mit dem Korridor hätten sie eine Verbindung und die Türkei über Aserbaidschan einen Zugang zum Kaspischen Meer. Diesen wiederum gönnt der Iran den Türken nicht, denn bisher gingen türkische Transporte Richtung Zentralasien immer durch den Iran. Die Interessenkette ist endlos.“

Sabah (TR) /

Die nächste Etappe im Blick

Aserbaidschan kann jetzt die nächsten Regionen ins Visier nehmen, meint die regierungsnahe Sabah:

„Karabach wird nun von Armenien offiziell als aserbaidschanisches Gebiet anerkannt. Dies ist in jeder Hinsicht der zweite Karabach-Sieg. Es ist die vollständige Lösung des Problems. ... Nach Nachitschewan ist Karabach also wieder mit Aserbaidschan vereint. Nun wird sich der Blick auf Sangesur [armenische Provinz, die Aserbaidschan von seiner Exklave Nachitschewan trennt] richten. Solange die politische Entschlossenheit und militärische Widerstandsfähigkeit anhalten, scheint es sowohl im Hinblick auf die sich verändernden regionalen und globalen Rahmenbedingungen als auch auf den geopolitischen Determinismus unvermeidlich, dass die jahrhundertelange Sehnsucht Sangesurs nach dem Vaterland in Kürze ein Ende findet.“

Neatkarīgā (LV) /

Frieden kommt nicht von selbst

Vor dem Hintergrund der Ereignisse im Bergkarabach und des Kriegs in der Ukraine analysiert die Neatkarīgā die globale Sicherheitslage:

„Egal wie sehr die Leader der westlichen Welt es nicht zugeben wollen, die einzige Chance, einen stabilen Frieden in der Welt wiederherzustellen, besteht darin, dass der Westen, allen voran die Vereinigten Staaten, zeigt, dass er immer noch eine Macht ist, die die Ordnung in der Welt aufrechterhalten will und kann. Es gibt einfach keine anderen Varianten. Frieden wird nicht von selbst kommen. Ohne Aufsicht eines Erwachsenen wird es im Kindergarten keine Ordnung geben. Je früher der Westen demonstriert, wer hier für Ordnung sorgt, desto weniger Opfer wird es geben.“

De Volkskrant (NL) /

Sicherheit der Bevölkerung garantieren

Die Welt muss sich dringend um den Schutz der Armenier in Bergkarabach kümmern, mahnt De Volkskrant:

„Jetzt müssen die internationalen Parteien - die EU, die USA, aber vor allem die Türkei als Verbündete von [Aserbaidschans Präsident Ilham] Alijew - so viel Druck wie möglich auf Aserbaidschan ausüben, um zu verhindern, dass das ethnische Pulverfass Bergkarabach explodiert. Es muss verhindert werden, dass es in der Enklave zu einer ethnischen 'Säuberung' oder gar Genozid kommt. Die Sicherheit der Bürger von Bergkarabach muss jetzt Priorität bekommen. “

Tygodnik Powszechny (PL) /

Regierung in Jerewan in der Schwebe

Tygodnik Powszechny fragt nach der Zukunft des armenischen Regierungschefs Paschinjan:

„Ein zweiter verlorener Krieg um Karabach könnte das Ende der Regierung und der politischen Karriere von Paschinjan bedeuten. Armenien hat seine Rolle als Geisel Karabachs schon lange satt, aber ein Verzicht auf die Region, noch dazu nach einem weiteren verlorenen Krieg, wird Paschinjan den Vorwurf des Verrats einbringen. Der Exodus der Armenier aus Karabach wird nur die Zahl der Feinde Paschinjans erhöhen, die bereit sind, eine neue Straßenrevolution [wie 2018] anzuzetteln, um diesmal ihn vom Thron zu stoßen.“

Večernji list (HR) /

Russlands Rache an Armenien

Der schnelle Sieg über Bergkarabach war nur mit grünem Licht von Putin möglich, meint Večernji list:

„Vielleicht hat Paschinjan eingesehen, dass er keine US-Hilfe bekommen wird, die ihm vor und nach der Militärübung 'Eagle Partner 2023' versprochen wurde. ... Diese Übung war in den Augen vieler Experten der Grund für Wladimir Putin, Aserbaidschan grünes Licht dafür zu geben, den Rest des Territoriums einzunehmen und damit den ungehorsamen armenischen Premier Paschinjan zu bestrafen, der Putin den Rücken gekehrt und sich zu sehr den USA angenähert hatte. ... Dass die Armenier sich dessen bewusst sind, zeigt auch die Tatsache, dass sich Demonstranten vor der russischen Botschaft in Jerewan versammelt haben und Russland kritisierten.“

republica.ro (RO) /

Zweifelhafter Erdgas-Partner in Baku

Die EU hat mit Aserbaidschan offenkundig auf den falschen Partner in Sachen Energie gesetzt, findet republica.ro:

„Die Aussicht auf einen neuen Krieg im Kaukasus ist ein schwerer strategischer und diplomatischer Rückschlag für die EU, die Aserbaidschan als Verbündeten und alternativen Gaslieferanten zu Russland umworben hat. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatte Aserbaidschan im Juli 2022 einen offiziellen Besuch abgestattet, um sich für eine Steigerung der Erdgasexporte einzusetzen. Das Land als 'vertrauenswürdigen Partner' beschreibend, unterzeichnete sie mit Präsident Ilham Alijew ein Memorandum über eine verstärkte wirtschaftliche Zusammenarbeit, wenngleich Experten warnten, dass Brüssel hier ganz einfach eine Autokratie durch eine andere ersetzt.“

T24 (TR) /

Fragen, wer die Profiteure sind

Es muss genau hingeschaut werden, um wessen Interessen hier eigentlich gekämpft wird, warnt T24:

„Aserbaidschan ist beunruhigt über die Anwesenheit einer großen Zahl bewaffneter Armenier in Karabach. Nach 30 Jahren des Wartens will Baku nicht, dass das Problem in seiner jetzigen Form erstarrt und weitere 30 Jahre ungelöst bleibt. Baku wird die volle Kontrolle über Bergkarabach übernehmen, aber es bleibt abzuwarten, ob in der Region Frieden eintreten wird. Es sollte gut überlegt werden, wer sich über den jüngsten Schachzug von Baku, den Machtverlust von Paschinjan und seine mögliche Ersetzung durch eine radikalere Regierung sowie die Tatsache, dass sich der Kaukasus nicht stabilisieren kann, am meisten freuen würde - und welche Risiken für kurzfristige Gewinne eingegangen werden.“