Krise in Berlin: Reicht die Erklärung des Kanzlers?

Nachdem ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts ein riesiges Loch in den deutschen Finanzhaushalt gerissen hatte, wurde die Regierungserklärung von Kanzler Scholz im In- und Ausland mit großer Spannung erwartet. Doch von seinen Ausführungen am Dienstag hatten sich viele mehr erhofft, wie ein Blick in die Kommentarspalten zeigt.

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Zeit Online (DE) /

Nichts geliefert

Dreifache Enttäuschung bei Zeit Online:

„Nachdem ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts die Ampel der Trickserei überführt und ihr von heute auf morgen die Geschäftsgrundlage entzogen hatte, hätten viele, erstens, eine Entschuldigung desjenigen erwartet, der als Kanzler und früherer Finanzminister die Verantwortung für den Schlamassel trägt. Zweitens hätte man auch gerne gewusst, wie es nun weitergeht mit dem Bundeshaushalt 2024. Und drittens hätten auch einige sinnstiftende Worte an die beunruhigte Nation gutgetan. Nach 22 Minuten Regierungsansprache – drei Minuten weniger, als ihm zugestanden hätten – muss man leider feststellen: Nichts davon hat der Bundeskanzler an diesem Dienstagvormittag geliefert.“

Der Standard (AT) /

Ungewissheit schlimmer als Wahrheit

Der Standard vermisst vor allem Transparenz:

„Es ist also klar, dass sich auf der Ausgabenseite etwas wird ändern müssen, wenn das Volk keine neuen Steuern aufgebrummt bekommen soll. Doch dazu sagt Scholz kein Wort, spricht nur von 'Herausforderungen' und 'Härte'. Da hätten Bürgerinnen und Bürger wie Unternehmerinnen und Unternehmer sicher gern mehr erfahren. ... Die Deutschen wollen wissen, wo die Regierung den Rotstift ansetzt. Ein paar Ideen wird sie ja schon haben. Also, raus damit. Ungewissheit ist oft schlimmer als die Wahrheit – auch wenn diese hart ist.“

Le Monde (FR) /

Europa braucht starkes Rückgrat in Deutschland

Deutschlands Tricks könnten der EU schaden, warnt Le Monde:

„Die aktuelle Krise in Berlin sollte insbesondere deshalb eine Warnung für Europa sein, da ein politischer Kompromiss noch nicht in Sicht ist. Sie wirft für die Partner Berlins die entscheidende Frage auf, welche Rolle Deutschland in einem Europa zu spielen bereit ist, das erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg so stark in seinen Grundfesten und seiner Sicherheit angegriffen wird und dessen Wirtschaft ernsthaft bedroht ist. ... Deutschland scheint politisch nicht bereit zu sein, die Rolle zu übernehmen, die von ihm erwartet wird: die eines starken Garanten für Europa. ... Die Antwort auf die aktuellen Herausforderungen kann nicht mit finanzpolitischen Tricks erfolgen. Es erfordert eine politische Debatte.“

Aargauer Zeitung (CH) /

Umfragewerte schweißen Koalition zusammen

Gerade wegen ihrer wachsenden Unbeliebtheit bleibt die Regierung in Berlin wohl stabil, kalkuliert die Aargauer Zeitung:

„Der nächste Koalitionskrach ist bereits programmiert: Um Geld zu sparen, will der liberale Finanzminister Christian Lindner nun die Gaspreisbremse auslaufen lassen, die nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine eingeführt worden war. Scholz will dies auch, viele seiner Parteikollegen jedoch nicht. Neuwahlen, wie sie der bayrische Ministerpräsident und CSU-Chef Markus Söder fordert, dürfte es in absehbarer Zeit dennoch kaum geben: Die Umfragewerte der SPD und der FDP sind miserabel, und auch jene der Grünen beginnen langsam zu erodieren. So bleiben die ungleichen Partner vorerst aneinandergekettet.“

Handelsblatt (DE) /

Hartes Rendezvous mit der Realität

Scholz muss nun eigentlich drei Zeitenwenden auf einmal vollführen, beschreibt das Handelsblatt:

„[D]ie sicherheitspolitische nach dem Ukrainekrieg, den ökologischen Umbau der Wirtschaft und jetzt auch noch eine finanzpolitische nach dem Verfassungsgerichtsurteil. Alle drei erfordern einen Bruch mit jahrzehntelanger, eingeübter Staatspraxis. Die Energiewende fällt etwas aus dem Rahmen, weil sie mehr oder weniger alle Gesellschaften betrifft. Die finanzpolitische Wende wird politisch noch schwerer umzusetzen sein als die sicherheitspolitische. Eine Gesellschaft nach mehr als zehn Jahren Aufschwung und vier krisenbedingten finanzpolitischen Ausnahmejahren wieder auf Entzug zu setzen ... wird ein hartes Rendezvous mit der Realität.“