Merz wird erst im zweiten Wahlgang Bundeskanzler
Der Bundestag hat am gestrigen Dienstag Friedrich Merz zum neuen Kanzler gewählt – allerdings erst in einem zweiten Wahlgang: Beim ersten Anlauf hatten dem CDU-Vorsitzenden sechs Stimmen aus den Reihen der schwarz-roten Koalition zur Mehrheit gefehlt. Nach der Kanzlerwahl wurden auch die Kabinettsmitglieder vereidigt. Europas Medien suchen nach den Ursachen des verstolperten Starts und bewerten seine Folgen.
Europa ist gewarnt
Helsingin Sanomat schreibt:
„Das historische Abstimmungsfiasko war eine Vorwarnung an Europa, dass interne Streitigkeiten Deutschland in Zukunft lähmen könnten. Deutschland sollte am Dienstag in eine neue Ära eintreten, in der Europas Wirtschaftsmacht die Geschicke des Kontinents in die Hand nehmen und sich den Herausforderungen von Putin und Trump stellen würde. Inmitten der Turbulenzen sollte sich ein stabilisierendes Deutschland herausbilden. Stattdessen zeigte die Ohrfeige für Merz, dass ein innenpolitisch unruhiges Deutschland zum nächsten Problem Europas werden könnte.“
Die Wunden sind offenbar noch frisch
Die führenden Köpfe der Koalitionspartner haben ihren Parteien einiges zugemutet, so der Spiegel:
„Offenbar haben beide, Merz und Klingbeil, die Dinge nicht vom Ende her gedacht oder nicht von den Befindlichkeiten der eigenen Leute her. Allein dass sich gleich mehrere nachvollziehbare Motive in beiden Fraktionen finden lassen, um diesen Ausgang zu erklären, ist einigermaßen spektakulär. Merz hat seinen Leuten und allen anderen immens viel zugemutet, am meisten im Januar, als er die Brandmauer zur AfD aufbrach. ... Und auch Lars Klingbeil hat wenig Rücksicht genommen. Er hat Vertraute und loyale Weggefährten an fast allen wichtigen Posten platziert. Unter den anderen habe er, so formuliert es ein erfahrener Abgeordneter, ein Massaker angerichtet ... . Die Wunden sind also noch frisch.“
Allianzen sind nicht sein Ding
Berlingske diagnostiziert die wunden Punkte des neuen Kanzlers:
„In Wirklichkeit könnten die 18 Dolche aus etwa 18 verschiedenen Gründen platziert worden sein. Und das ist bezeichnend für Merz' erste Monate an der Spitze der deutschen Politik. Denn es zeigt, wie schlecht er darin ist, Allianzen zu schmieden und zu kommunizieren. ... Die schockierende Niederlage vom Dienstag lässt Zweifel aufkommen, ob Merz verstanden hat, dass seine Ausgangslage so schlecht ist. Wenn nicht, ist es zumindest dem Rest der Welt klar. Und damit kommt ein weiteres Problem zu Merz' Liste hinzu: Er wurde vor aller Welt gedemütigt. Und das ist eine schlechte Ausgangslage für den Mann, der Europas wichtigstes Land führen wird.“
Hartnäckigkeit ist seine Stärke
Merz ist durchsetzungsstark und Gegenwind gewohnt, wirft Svenska Dagbladet ein:
„Der Start am Dienstag gilt als schlechtes Omen. Doch Merz ist dafür bekannt, niemals aufzugeben. Drei Anläufe brauchte er, um zum Parteivorsitzenden gewählt zu werden, er zog sich nach einem Konflikt mit Angela Merkel aus der Politik zurück, kehrte aber nach zehn Jahren zurück und steht nun an der Spitze der deutschen Politik. Von Merz wird nun erwartet, dass er versucht, die Lage zu seinen Gunsten zu wenden. Zu Hause schnelle Entscheidungen treffen, neue Initiativen in der EU ergreifen und sich mit wichtigen Verbündeten abstimmen, um Optimismus zu verbreiten und eine positive Grundstimmung zu schaffen.“
Angeschlagen zum Antrittsbesuch
Ein von Anfang an geschwächter Kanzler besucht heute Paris, urteilt L'Opinion:
„In Deutschland kommt zur Krise des wirtschaftlichen und strategischen Modells nun auch noch die politische Unsicherheit hinzu. Das ist weder für die orientierungslosen Deutschen noch für die Europäer eine gute Nachricht. Der Elysée-Palast setzt große Hoffnungen auf Friedrich Merz, um den 'deutsch-französischen Reflex' wiederzufinden, doch es ist ein angeschlagener Kanzler, der am heutigen Mittwoch zum Antrittsbesuch nach Paris kommt. Deutschland ist die größte Macht auf dem Kontinent und bleibt die treibende Kraft in Europa. Machen wir uns nichts vor: Sein aktueller Rückschlag ist auch ein Rückschlag für unser gemeinsames europäisches Projekt.“
Verlierer-Image haftet ihm an
Mediapart sieht wenig Handlungsspielraum:
„Merz ist der unbeliebteste Bundeskanzler der neueren Geschichte, so dass die AfD in den Umfragen weiter zulegt und sich dem Niveau der CDU/CSU annähert. Die neue deutsche Regierung beginnt ihre Amtszeit also ohne jegliche Schonfrist. Sie steht nicht nur unter dem Druck geopolitischer und wirtschaftlicher Entwicklungen, sondern auch unter jenem der deutschen Gesellschaft, die kaum an ihren Erfolg glaubt, sowie unter dem Druck aus den eigenen Reihen, in denen ebenfalls Zweifel herrschen. Stabilität wird nicht gegeben sein, sondern muss vom neuen Kanzler geschaffen werden. Um in einem solchen Kontext zu bestehen, müsste Friedrich Merz seine bisher fast ununterbrochen gespielte Rolle als ewiger Verlierer der politischen Geschichte Deutschlands ablegen.“