Ukraine: Rückschritt im Kampf gegen Korruption?

In der Ukraine gibt es - erstmals seit Kriegsbeginn - politische Proteste. Sie gelten einem neuen Gesetz über die bislang unabhängigen Antikorruptionsbehörden. Das Nationale Antikorruptionsbüro (Nabu) und die Spezialisierte Antikorruptionsstaatsanwaltschaft sollen künftig dem Generalstaatsanwalt unterstellt werden. Beobachter kritisieren Präsident Selenskyj und sehen das Land auf einem gefährlichen Kurs in Richtung Autoritarismus.

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Neue Zürcher Zeitung (CH) /

Selenskyjs Schützlinge im Visier

Die Neue Zürcher Zeitung fordert eine klare Reaktion der EU:

„Weshalb Selenski unnötig politisches Kapital verspielt, ist ein Rätsel. Die offizielle Begründung – angeblicher russischer Einfluss auf die Antikorruptionsermittler – dürfte nur ein Vorwand sein. Die wahre Erklärung liegt wohl darin, dass das Nabu inzwischen zu viele von Selenskis politischen Freunden ins Visier genommen hat. Die Behörde erfüllte, mit anderen Worten, genau die Aufgabe, für die sie geschaffen worden war. ... Bei allem Respekt für Selenskis Leistung als Kriegspräsident wäre ausländisches Wegschauen nun das falsche Rezept. Die EU muss klarmachen, dass ohne Korrektur des Fehlers vom Dienstag der Weg zum Beitritt blockiert ist.“

Dagens Nyheter (SE) /

Der Lack ist ab

Für Dagens Nyheter ist der Ruf des ukrainischen Präsidenten ramponiert:

„Für Selenskyj ist die Situation äußerst peinlich. ... Er drängt frenetisch auf den Beitritt der Ukraine zur EU und hält pathetische Reden über das moralische Recht der Ukraine auf eine Mitgliedschaft. Mit seinem Vorgehen bestätigt er nun das Problem, das die EU zwar schon immer kannte, über das sie aber aufgrund des russischen Angriffskriegs lieber Stillschweigen wahrte: dass die Korruption in der Ukraine weiterhin ein großes Problem darstellt. Nach außen hin ließ sich damit umgehen, solange Selenskyj den Eindruck vermitteln konnte, er bekämpfe mit aller Kraft die Korruption. Dieses Bild ist nun zerstört.“

Novinky.cz (CZ) /

Höchste Zeit für freundschaftlichen Rat

Novinky.cz beklagt, dass der Westen Selenskyj eine gewisse Narrenfreiheit zubilligt:

„Als Freunde und Verbündete der Ukraine umarmen und klopfen wir ihrem Präsidenten nur allzu gerne auf die Schulter, stellen ihm aber keine unangenehmen Fragen, geschweige denn Ultimaten. Wir halten das für unpassend, solange im Land Krieg tobt. Doch genau das Gegenteil ist der Fall. Es ist höchste Zeit, das zu tun, was auch die Aufgabe eines wahren Freundes ist: Selenskyj anzurufen und ihm die unangenehme Wahrheit zu sagen – dass wir Demokratie und Zivilgesellschaft unterstützen, nicht Autokraten. Wir müssen uns klar für die ukrainische Gesellschaft einsetzen, gegen das erobernde Russland und nun auch gegen die ukrainischen Unberührbaren.“

Jutarnji list (HR) /

Strippenzieher Jermak ist zu mächtig

Der Einfluss von Selenskyjs Bürochef Andrij Jermak ist unangemessen hoch, findet Jutarnji list:

„Zu viel Macht hat sich im Präsidialamt und in den Händen von Jermak konzentriert. Selenkyj überlässt ihm, wie auch anderen in dieser Behörde, Befugnisse, die ihm nicht einmal im Ausnahmezustand zustehen. Kritiker werden mit leichter Hand mit dem Stigma prorussischer Akteure belegt. Die Verantwortung für diesen langfristig falschen Zug trägt Selenskyj und den Preis wird die Ukraine zahlen, da sich viele fragen, ob sie einem Land Geld geben möchten, dass den Kampf gegen die Korruption abschafft. Einem Land, dass der Chef des Präsidentenamtes aus dem Schatten regiert, während der Präsident das Gesicht ist, dass weltweit Sympathien einfährt.“

Ukrajinska Prawda (UA) /

Verrat am Euromaidan

Die Chefredakteurin von Ukrajinska Prawda Sewhil Mussajewa sieht eine Wende in Richtung Autoritarismus:

„Das ist der Abbau der nach der Revolution der Würde [Euromaidan] geschaffenen Antikorruptions-Infrastruktur – errichtet von der Zivilgesellschaft, unter dem Druck internationaler Partner und auf die Forderung jener Ukrainer hin, die einen ehrlichen und transparenten Staat wollten. Und die für diese Forderung ihr Leben geopfert haben. Heute wurde all das verraten. Diese Entscheidung bedeutet den Verlust der Orientierung, die Verhöhnung des Gedenkens – und den Beginn eines Abgleitens ins Autoritäre, wenn die Macht in einer Hand konzentriert wird und es weder Balance noch Verantwortung noch die Furcht gibt, entlarvt zu werden.“

The Spectator (GB) /

Ukraine wird russischer

Die Reform macht die Ukraine dem verfeindeten Nachbarn ein bisschen ähnlicher, klagt The Spectator:

„Der Kampf um die Zukunft der Ukraine wird nicht nur auf dem Schlachtfeld, sondern auch innerhalb ihrer demokratischen Institutionen ausgetragen. Eine dieser Schlachten wurde am Dienstag verloren. … Das Gesetz bringt die Ukrainer näher an jenes Land heran, von dem sie unbedingt weg wollen. Sollte es nicht verworfen werden, riskiert Präsident Selenskyj, die Menschen zu einem weiteren Maidan-Aufstand auf den Unabhängigkeitsplatz zurückzutreiben. Dieser Moment könnte näher liegen, als er denkt.“

Rzeczpospolita (PL) /

Selenskyj riskiert viel

Präsident Selenskyj stößt nicht nur die Ukrainer, sondern auch seine westlichen Partner vor den Kopf, schreibt Rzeczpospolita:

„Die Konsequenzen, mit denen die ukrainische Führung aufgrund der jüngsten Entscheidungen konfrontiert sein wird, lassen sich nur schwer vorhersagen. Wolodymyr Selenskyj wird sich schon bald mit den Reaktionen der ukrainischen Gesellschaft, seiner politischen Gegner, aber auch der demokratischen Welt, die die Ukraine unterstützt, auseinandersetzen müssen. Zumal Kyjiw im Kampf gegen die Korruption noch viel zu tun hat. Im letztjährigen Ranking von Transparency International lag die Ukraine etwa auf dem Niveau von Algerien.“

La Repubblica (IT) /

Kyjiw entfernt sich von der EU

Mit dem Vorgehen gefährdet das Land seine Annäherung an die EU, warnt auch La Repubblica:

„Der Kampf gegen die endemische Korruption, an der die Ukraine seit Jahrzehnten erstickt, hat in den vergangenen Jahren zu Verbesserungen geführt. Er ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für den Beitritt Kyjiws zur Europäischen Union. Es überrascht daher nicht, dass die EU-Kommissarin für Erweiterung, Marta Kos, gestern ihre Besorgnis über diese Gegenreform zum Ausdruck brachte, die die Befugnisse des Präsidenten ausweitet und im Vergleich zu den Fortschritten, die Kyjiw in den letzten Jahren gemacht hat, einen 'ernsten Rückschritt' darstellt.“

Unian (UA) /

Kampf gegen Filz geht weiter

Politikexperte Witalij Kulyk weint in Unian dem Nationalen Antikorruptionsbüro hingegen keine Träne nach:

„Sein Resultat: kein einziger Fall von Korruption auf höchster Ebene, der zu einer Verurteilung geführt hätte. Die bestehende Antikorruptionsarchitektur hat sich insgesamt als ineffektiv erwiesen. Deshalb stimme ich nicht in das allgemeine Wehklagen über den Gesetzentwurf Nr. 12414 ein und 'begrabe' weder die Korruptionsbekämpfung noch die EU-Integration. Denn die USA und die EU werden weiterhin Transparenz und eine höhere Effizienz bei der Verwendung von Hilfsgeldern fordern. Diese Regierung wird also trotzdem gezwungen sein, Mechanismen und ein angemessenes Modell für die Antikorruptionsinfrastruktur zu schaffen.“