Korruption: Wie demokratisch ist die Ukraine?

Wegen des Korruptionsskandals im Energiesektor der Ukraine wird im direkten Umfeld von Präsident Selenskyj ermittelt. Justizminister Herman Haluschtschenko und Energieministerin Switlana Hryntschuk erklärten ihre Rücktritte. Der Präsident beteuerte seine eigene Unschuld und kündigte einen radikalen Umbau der Energiebranche an.

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Naftemporiki (GR) /

Der tiefe Fall eines Helden

Naftemporiki ist empört:

„Die engsten Mitarbeiter des ukrainischen Präsidenten wurden verhaftet, sind zurückgetreten oder ins Ausland geflohen, weil sie beschuldigt werden, Hunderte Millionen aus westlichen Hilfsgeldern veruntreut zu haben. Vor allem im Energiesektor. ... Wusste Selenskyj all das? Ohne den geringsten Zweifel. Immerhin hatte er selbst im vergangenen Sommer versucht, die Ermittlungen zu stoppen. Bis vor kurzem noch ein Held, gilt Selenskyj nun als Kopf eines korrupten Regimes in der Ukraine.“

Süddeutsche Zeitung (DE) /

Reformdruck ausüben

Beim Kampf gegen Korruption darf keine falsche Rücksicht genommen werden, fordert die Süddeutsche Zeitung:

„Vor allem die EU ist hier seit Jahren viel zu nachsichtig und zu weich gewesen. Wer behauptet, solch große Umbauten seien in Kriegszeiten nicht möglich, der irrt. Durchgreifende Reformen kommen gerade in Zeiten extremer Krisen. Freilich bleibt es richtig, dass der Westen trotz des jüngsten Korruptionsskandals um Energoatom, dem ohne Zweifel weitere folgen werden, die um ihr Überleben kämpfende Ukraine mit Waffen und Ausrüstung unterstützt. So richtig wäre es freilich aber auch, an anderer Stelle Milliarden zu sperren, solange Kiew dringend nötige Reformen nicht umsetzt.“

Ewropeiska Prawda (UA) /

Sanktionen trotz Bedenken ausgeschlossen

Ewropeiska Prawda fasst die Stimmung der Unterstützerländer in der EU zusammen:

„Das Hauptproblem besteht in den Zweifeln darüber, inwieweit die Staatsführung in das Korruptionsschema verwickelt war. Nährboden für diese Zweifel bietet der Versuch vom Juli, die Befugnisse von [den Antikorruptionsbehörden] Nabu und Sap zu beschneiden. In Brüssel zweifelt man nicht daran, dass diese Initiative vom Präsidenten ausging. Daher ist man auch jetzt nicht ohne Weiteres bereit, Selenskyj Glauben zu schenken, wenn er sich öffentlich distanziert. In der EU argumentiert man offen, dass jede Bestrafung der Ukraine ihre Position auf dem Schlachtfeld schwächen würde, weshalb ein solches Szenario nicht in Betracht gezogen wird.“

Phileleftheros (CY) /

Das Volk leidet, die Elite füllt sich die Taschen

Phileleftheros klagt an:

„Millionen Menschen sind auf der Flucht, Zehntausende wurden getötet oder verletzt, Kinder sind zu Waisen geworden, ein Land zerfällt. Derweil feiert eine Elite aus Politikern und Geschäftsleuten, die Millionen einnimmt und gleichzeitig feurige Reden über patriotische Pflichten hält. Genau wie es der englische Schriftsteller Samuel Johnson vor fast drei Jahrhunderten gesagt hat, dass Patriotismus 'die letzte Zuflucht der Schurken' sei. In der Ukraine tobt ein Krieg, aber auf den Trümmern scheint sich ein riesiger Skandal abzuzeichnen.“

Dserkalo Tyschnja (UA) /

Wenn Macht zur Falle wird

Die derzeitige Krise ist auch eine Folge der Unmöglichkeit, Wahlen im Krieg abzuhalten, schreibt Dserkalo Tyschnja:

„Die kontinuierliche Ausübung der Macht ohne Wahlen hat zu ihrer Degenerierung geführt. Auf allen Ebenen. Das zeigt sich an den Entscheidungen des Parlaments und am Verhalten der lokalen Behörden. ... Die einzige Chance für Selenskyj, das Rad herumzureißen, bestünde darin, sich an Fachleute zu wenden, die Regierungsämter übernehmen sollen, und ihnen den in der Verfassung vorgesehenen Anteil der Macht zu delegieren. Die Eigenständigkeit des Parlaments wiederherzustellen. Mit fairen Auswahlverfahren einen Neustart des Justizsystems einzuleiten. Die Zügel der Geheimdienste loszulassen.“

Kronen Zeitung (AT) /

Krieg ist der Nährboden

Die Kronen Zeitung kann dem Korruptionsskandal auch etwas Positives abgewinnen:

„[Es] muss festgehalten werden, dass das Korruptionsnetzwerk durch die unabhängige Antikorruptionsbehörde aufgedeckt worden ist. Wo nichts aufgedeckt wird, ist auch keine Korruption – wie etwa in Russland. Dort ist angeblich alles supersauber. ... In der Ukraine funktionieren also noch die letzten demokratischen Kontrollmechanismen. Dennoch ist die Korruption ein Ungeheuer wie die Hydra, der man noch so viele Köpfe abschlagen kann – sie wachsen immer nach. Kriege sind der Nährboden für krumme Geschäfte, und das Übel reicht zurück in die kommunistische Vergangenheit.“

Dagens Nyheter (SE) /

Kampf an allen Fronten

Der Korruptionsskandal ist ein gefundenes Fressen für die russische Propagandamaschinerie, beobachtet Dagens Nyheter:

„Auf Tiktok werden gefälschte Videos von ukrainischen Soldaten verbreitet, die weinend ihre Waffen niederlegen. Das Ziel ist, den Kampfwillen zu untergraben – und uns im Westen glauben zu machen, dass es keinen Sinn hat, das Land zu unterstützen, dass es vorbei ist. ... Gleichzeitig kommen aus Russland ständig neue Berichte, dass die Wirtschaft wankt, die Inflation hoch ist und die Unzufriedenheit brodelt. Die Ukrainer ihrerseits verlassen sich nicht auf ein Wunder. Sie kämpfen gegen Korruption, für ihre Unabhängigkeit und Demokratie.“

La Repubblica (IT) /

Das ist erst der Anfang

Es wird weitere brisante Enthüllungen geben, vermutete La Repubblica:

„Die Untersuchung gegen eine Bande korrupter Personen, die internationale Hilfsgelder zum Schutz von Kraftwerken und Energieinfrastruktur vor russischen Angriffen missbrauchten, breitet sich rasant aus. ... Tymur Minditsch, Mitinhaber des von Selenskyj gegründeten Rundfunkunternehmens Studio Kwartal 95 und ein enger Freund des Präsidenten, gilt als Drahtzieher des Skandals: Er floh, als Nabu-Agenten bei ihm zu Hause auftauchten. ... Doch über den Vertrauten des Präsidenten ziehen weitere dunkle Wolken auf: Im Zuge der Ermittlungen ist der Name von Rustem Umjerow, Sekretär des von Selenskyj geleiteten Sicherheitsrates und einer der Hauptverhandlungsführer [über eine Waffenruhe], aufgetaucht.“

The Spectator (GB) /

Scharfer Kontrollblick aus dem Westen

Selenskyj hat keine andere Wahl, als Aufklärung zu fordern, selbst wenn dies seinen Sturz bedeutet, glaubt The Spectator:

„Selenskyj selbst unterstützt öffentlich das Vorgehen gegen Korruption und erklärte in seiner nächtlichen Ansprache an die Nation, dass es 'Strafen geben muss'. … Die Standardreaktion vieler Selenskyj-Anhänger wird sein, die Vorwürfe als Verleumdungen des Kremls abzutun. Tatsächlich stützte Selenskyj seinen Versuch, [das Antikorruptionsbüro] Nabu im Juli unter seine Kontrolle zu bringen, auf vage und nie belegte Behauptungen über eine russische Unterwanderung der Behörde. Doch da der Westen genau hinschaut, hat Selenskyj kaum eine andere Wahl, als Nabus Vorgehen gegen seine engsten Verbündeten und Geschäftspartner zu billigen und die Folgen für seinen Ruf und seine politische Zukunft in Kauf zu nehmen.“

Visão (PT) /

Regierungswechsel so schnell wie möglich

Dieser Skandal schadet dem EU-Beitrittsprozess der Ukraine, warnt Visão:

„Seit 2022, mit dem Beginn des Krieges und dem Vorantreiben des Beitrittsprozesses, fließt eine Flut von Geld in die Ukraine. Dies erfordert eine beispiellose Wachsamkeit, damit kein Teil der dem Land gewährten Hilfe in Frage gestellt wird. Leider wird dies ein weiteres Thema sein, das Putin aufgreifen kann, obwohl er der Führer eines der korruptesten Länder der Welt ist. Selenskyj muss auf allen Ebenen entschlossen und schnell handeln. ... Die Verbündeten brauchen schnelle Erklärungen, um ein Einfrieren aller Hilfen, wenn auch nur vorübergehend, zu vermeiden. Die Ukraine braucht eine neue Regierung.“

Der Standard (AT) /

Kyjiw braucht Europas Beistand mehr denn je

Die Unterstützung durch die EU darf trotz des Skandals nicht nachlassen, fordert Der Standard:

„All das ist freilich Wasser auf die Mühlen der Kreml-Freunde, die nun einmal mehr fordern, keine weiteren EU-Beitrittsgespräche mit der Ukraine zu führen und dieser den Geldhahn zuzudrehen. Dabei gilt es gerade jetzt, die demokratischen Strukturen im Land zu stärken. So wie im Sommer, als die Unabhängigkeit des Nationalen Antikorruptionsbüros und der Antikorruptionsstaatsanwaltschaft eingeschränkt werden sollte. Das konnte damals verhindert werden – durch Proteste auf den Straßen und durch Druck aus Europa. Letzterer kann aber nur greifen, wenn man die EU-Beitrittsambitionen der Ukraine prinzipiell unterstützt, statt das leidgeprüfte Land bei jeder Gelegenheit zu brüskieren.“

Die Welt (DE) /

Zivilgesellschaft bleibt unbeirrt

Die Welt ist beeindruckt von der Resilienz der Zivilgesellschaft:

„Die ließ sich im Sommer auch durch den Krieg nicht beirren – die ukrainischen Bürger gingen massenhaft auf die Straße, um die Unabhängigkeit der Antikorruptionsbehörde zu bewahren. Selenskyj sah sich deshalb am Ende gezwungen, dem Druck seiner Bürger und der Europäer nachzugeben und die Eigenständigkeit der Behörde wieder herzustellen. Dass die Ukrainer trotz Krieg nicht bereit waren, die Reformuhr zurückdrehen zu lassen, zeigt, wie resilient die Zivilgesellschaft auch politisch ist. Und wie wichtig es den Ukrainern ist, ihren Weg in Richtung Europa und europäischer Werte fortzusetzen.“

Espreso (UA) /

Selbstmörderischer Verrat

Espreso ist erzürnt:

„Das Ganze wirkt wie etwas zwischen Selbstmord und Verrat – vor allem, wenn man bedenkt, dass die jüngsten russischen Angriffe genau auf jene Umspannwerke zielten, die die ukrainischen Atomkraftwerke mit Strom versorgen. Eines davon ist das Kernkraftwerk Chmelnyzkyj, das im Epizentrum des Korruptionsskandals steht. ... Wenn wir also fragen: Wo ist denn der versprochene Schutz [der Energieinfrastruktur]? Dann erinnert euch an die Sporttaschen voller Euro und Dollar, die offensichtlich für etwas Anderes gedacht waren – aber nicht dafür, dass die Menschen den Winter wenigstens mit minimalem Komfort überstehen oder dass unsere Truppen bei Pokrowsk ausreichend Drohnen haben.“

Corriere della Sera (IT) /

Präsident von allen Seiten bedrängt

Es ist keine einfache Zeit für Wolodymyr Selenskyj, befindet Corriere della Sera:

„Die Russen drängen an den Kampflinien, Korruptionsskandale schwächen die innere Front, und die Trump-Regierung scheint bereit zu sein, ihm Steine in den Weg zu legen, obwohl er eigentlich Waffen und Munition von den Verbündeten bräuchte. … Die innenpolitische Lage in der Ukraine wird zusätzlich durch einen Skandal belastet, in den mehrere Führungskräfte der nationalen Energieunternehmen verwickelt sind. Ein brisantes Thema, insbesondere jetzt, da die russischen Bombardierungen das Land ins Halbdunkel tauchen. ... Der Präsident, der in der Vergangenheit versucht hatte, die Arbeit der Ermittlungsbehörden zu boykottieren, begrüßt derzeit die Ermittlungen und fordert dazu auf, 'aufzuräumen'.“

Radio Kommersant FM (RU) /

Als Verschwörung nicht zielführend

Radio Kommersant FM erwartet nicht, dass der Skandal Selenskyj zu Fall bringen wird:

„Man kann in all dem eine große Verschwörung gegen Wolodymyr Selenskyj sehen. Etwa mit dem Ziel, auf ihn Druck auszuüben um ihn zu zwingen, seine Verhandlungsposition zu mildern, oder sogar, um den Rücktritt des Staatschefs zu erreichen. ... Es fällt auf, dass die ukrainischen Politiker sich nicht besonders darum reißen, sich hinter einer einzelnen Person zu versammeln, selbst angesichts der sehr schwierigen Lage. Dabei wird Selenskyj mit höchster Wahrscheinlichkeit seinen Posten nicht räumen und seine Haltung kaum ändern. Zwar hat er sich von Minditsch distanziert. Letzterer ist aber ausgereist, sodass er seinen alten Freund kaum anschwärzen wird.“