Was kann Europa nach Wahl von der Leyens erwarten?

Mit nur neun Stimmen mehr als nötig hat das Europaparlament Ursula von der Leyen zur neuen Präsidentin der EU-Kommission gewählt. Weil die Regierungschefs die eigentlichen Spitzenkandidaten bei der Vergabe des wichtigsten EU-Amts ignoriert hatten, entschieden sich viele Abgeordnete wohl erst in letzter Minute für die Deutsche. Kommentatoren formulieren klare Erwartungen an von der Leyen.

Alle Zitate öffnen/schließen
NRC (NL) /

Trump, Polen und Ungarn die Stirn bieten

Künftige Aufgaben der neuen Kommissionschefin skizziert Politologie-Professor Luuk van Middelaar in NRC Handelsblad:

„Für ihre politische Arbeit mit den Regierungschefs und auf der Weltbühne zählen ihre persönlichen Qualitäten - vor allem Beurteilungsvermögen und Überzeugungskraft. Es ist 'VDL', die ab dem 1. November mit Präsident Trump verhandeln muss, um einen Handelskrieg zu verhindern. Das ist im US-amerikanischen Wahljahr 2020 kein leichter Auftrag. ... Unklar blieb, ob sie im Tausch für die nötigen Stimmen Polen und Ungarn versprochen hat, diese mit Blick auf Verletzungen des Rechtsstaatsprinzips weniger zu kritisieren. ... Allerdings glaube ich, dass von der Leyen auch hier im richtigen Moment Unabhängigkeit und Tatkraft beweisen wird.“

Lrytas (LT) /

Grüne Vision ist Hoffnungsschimmer

Dass die designierte Kommissionspräsidentin viel für den Klimaschutz tun will, erfüllt Lrytas.lt mit Hoffnung:

„So sollen etwa ausschließlich erneuerbare Energien genutzt werden, die den Klimawandel nicht beeinflussen. Es ist paradox, dass gerade die Grünen und ein Teil der Vertreter linksorientierter Fraktionen des EU-Parlaments sich gegen ihre Kandidatur aussprachen. ... Beziehen sich doch die wichtigsten Punkte in den Programmen der grünen und linken Parteien auf Klimaschutz, nachhaltige Entwicklung und grüne Wirtschaft. ... Falls wir in den kommenden 100 Arbeitstagen die Pläne von der Leyens in Form eines Gesetzes vorgelegt bekommen, wird dies ein großer Schritt für Europa sein. “

Daily Sabah (TR) /

Chance für Neustart der EU-Türkei-Beziehungen

Mit Blick auf die kriselnden Beziehungen zwischen der EU und der Türkei setzt Daily Sabah Hoffnung in die neue Kommission:

„Die EU muss unverzüglich ihre Politik gegenüber der Türkei neu bewerten. Die jetzige EU-Kommission, deren Amtszeit gerade endet, ist nicht fähig, in dieser Sache erfolgreich zu sein. Einer der ersten Schritte, die die neue EU-Kommission mit von der Leyen als Präsidentin unternehmen muss, sollte diese Angelegenheit sein. Der Dialog mit der Türkei sollte von seinem drohenden Ton befreit werden. Die Haltung gegenüber der Türkei sollte konstruktiv und positiv sein. Eine realistische Vorgehensweise ist erforderlich. Für die EU-Türkei-Beziehungen mit von der Leyen wünschen wir uns vorteilhafte Schritte für beide Seiten.“

De Morgen (BE) /

Eine Frau mit einer Vision

De Morgen rühmt die Rede der neuen Kommissionspräsidentin:

„Fünf Minuten. So lange dauerte es, bis die deutsche Ursula von der Leyen in ihrer Rede vor dem Europäischen Parlament ihren Vorgänger Jean-Claude Juncker vergessen ließ. Denn um ehrlich zu sein: Ein großer Redner war er nie. ... Da stand und sprach eine Frau mit einer Vision. ... So langsam drang es durch, dass von der Leyen möglicherweise doch nicht eine graue Maus und zweitklassige Figur ist, wie so viele gesagt haben. Vor allem die euro-kritischen Parteien verschluckten sich an ihrem Kaffee. ... Man kann es nie allen recht machen, aber Tatsache ist, dass sie einen ersten guten Auftritt hatte.“

HuffPost Italia (IT) /

Die perfekte Präsidentin

Auch Politikwissenschaftler Ubaldo Villani-Lubelli ist angetan von von der Leyen und schreibt in Huffington Post Italia:

„Ihr internationales Profil macht sie zu einer perfekten Präsidentin der Europäischen Kommission. Ursula von der Leyen ist Mitglied des Kuratoriums des World Economic Forum und hat wiederholt auf der Münchner Sicherheitskonferenz gesprochen. … Sie ist eine Garantin dafür, dass Europa bei der Verteidigung der Rechtsstaatlichkeit nicht einen Zentimeter nachgibt, dass es sich von den mehr oder weniger autoritären Führungskräften, die in den letzten Jahren dominant geworden sind, nicht einschüchtern lässt. Es ist zu erwarten, dass sie eine sehr klare Position zur europäischen Verteidigung einnehmen wird, die eines der Ziele bleibt, die Europa in den nächsten fünf Jahren erreichen muss.“

Večer (SI) /

Weltfremde Elite

Unzufrieden mit der Wahl zeigt sich hingegen Večer:

„Gewählt wird jemand aus der Elite. Sie hat keine Ahnung, was die Mehrheit der EU-Bürger braucht und wie sie lebt, die immerhin die Funktionäre und deren Armee an Mitarbeitern und Beratern mit Steuergeldern teuer finanziert. … Von Legislaturperiode zu Legislaturperiode werden in Brüssel immer mehr Leute dafür bezahlt, dass sie das Image ihrer Vorgesetzten in den höchsten Ämtern aufpolieren und die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit von den wahren Problemen ablenken. … Dass die Kommission die Interessen verriet, die sie eigentlich vertreten müsste, geschah bereits von 2004 bis 2014 unter der Herrschaft von Kommissionspräsident José Manuel Barroso. Damals haben die EU-Kommissare offen begonnen, ihre Vorschläge und Standpunkte mit den Interessen ihrer jeweiligen Länder zu begründen.“

Tages-Anzeiger (CH) /

Ohne Macht und Kraft

Dass Ursula von der Leyen nur wenig wird umsetzen können, glaubt der Tages-Anzeiger:

„Das Problem ist die Fragmentierung und Polarisierung der politischen Landschaft. Die Gräben ziehen sich quer durch politische Familien. Ursula von der Leyen wird als Brückenbauerin gefragt sein. Die Zeiten, in denen die EU von einer informellen grossen Koalition von Konservativen und Sozialdemokraten gesteuert wurde, sind vorbei. Die neuen Mehrheiten sind fragil. Ursula von der Leyen sieht sich mit Maximalforderungen konfrontiert, hat in ihrer Bewerbungsrede viel versprochen. Umsetzen kann sie jedoch nichts, wenn Mitgliedsstaaten und EU-Parlament sie nicht unterstützen. Kompromiss scheint jedoch zum Schimpfwort zu werden. Ohne tragfähige Kompromisse droht der Stillstand und Ursula von der Leyen eine Kommissionspräsidentin ohne Macht und Kraft zu werden.“

The Independent (GB) /

Kein Mut für nachhaltigen Wandel

Warum von der Leyen die Grünen Europas nicht überzeugt hat, erklärt The Independent:

„In ihrer Rede stellte sie zwar klar, dass sie auf die grüne Welle in Europa und die Herausforderungen des Klimawandels reagiert - jedoch nur so weit, wie es ihre Zahlmeister aus der Wirtschaft zulassen werden. Ihre politischen Wurzeln machen es ihr unmöglich, den Mut zu einem grundlegenden sozialen und wirtschaftlichen Wandel zu haben, der den Übergang zur Nachhaltigkeit in ein Fest für die Vielfalt und die Chancengleichheit verwandeln könnte. Um fortschrittliche und grüne Stimmen zu gewinnen, hätte es einer komplett anderen Rede bedurft.“

Club Z (BG) /

Dienerin vieler Herren

Mit ihrer hauchdünnen Mehrheit wird es von der Leyen schwierig haben, analysiert Club Z:

„Diese EU-Kommission verfügt über eine wacklige Mehrheit von neun Abgeordneten. Es ist also nicht sicher, ob sie fünf Jahre halten wird. Es ist auch nicht sicher, ob von der Leyen es schaffen wird, es allen recht zu machen, die für sie gestimmt haben. Denn ihre Visionen für die EU sind in vielen Punkten gegensätzlich. Das bedeutet, dass die EU weiterhin nur mit zögerlichen Trippelschritten vorangehen wird. … Von der Leyen wird ein schwieriges Mandat haben - nicht wegen derer, die gegen sie gestimmt haben, sondern wegen derer, die für sie gestimmt haben. Sie wird Dienerin vieler Herren sein.“