Muss Europa wieder in den Lockdown?

Steigende Infektionszahlen beunruhigen viele europäische Regierungen. Immer neue Reisewarnungen und Risikogebiete werden ausgerufen. Wissenschaftler warnen, dass die Covid-19-Pandemie im Herbst wieder außer Kontrolle geraten könnte. Auch einige Kommentatoren sind besorgt und fordern neue Maßnahmen, während andere von übertriebenen Reaktionen abraten.

Alle Zitate öffnen/schließen
Aktuality.sk (SK) /

Horrorszenario ist nicht eingetroffen

Aktuality.sk fordert, die bisherigen Erfahrungen zunächst einmal kritisch auszuwerten:

„Viele der nationalen und internationalen Quarantänemaßnahmen waren unverhältnismäßig übertrieben. Es stellt sich heraus, dass die Pandemie nicht so gefährlich und zerstörerisch ist, wie wir am Anfang befürchtet hatten. Die Vorhersagen von überfüllten Krankenhäusern und einer großen Zahl von Opfern stimmten nicht. ... Stark übertrieben waren auch die Maßnahmen dagegen: die Schließung der Wirtschaft, von Schulen und die Schließung von Grenzen. ... Natürlich gab es extreme Fälle wie in Norditalien oder in Ostfrankreich, in denen Tausende von Menschen in überfüllten Krankenhäusern gestorben sind. Dies waren jedoch Extremfälle. Die Situation in der Slowakei und in den meisten Ländern war und ist beherrschbar.“

Le Monde (FR) /

Das Virus ist keine nationale Angelegenheit

Der Mathematiker Miquel Oliu-Barton und der Wirtschaftswissenschaftler Bary Pradelski schlagen in Le Monde hingegen vor:

„Auf nationaler Ebene sollte ein gezielter, realistischer, verständlicher und gemeinsamer Plan zur erneuten Ausgangssperre umgesetzt werden. ... Aber das Virus ist keine nationale Angelegenheit. Daher würde ein solcher Plan sehr davon profitieren, wenn er von anderen europäischen Ländern ebenfalls umgesetzt würde. ... Ein gemeinsamer Plan würde dazu beitragen, das Vertrauen der Reisenden und damit die Freizügigkeit wiederherzustellen, wo es die epidemiologische Situation erlaubt. ... Europa ist es gelungen, sich auf ein gemeinsames Konjunkturprogramm von historischem Ausmaß zu einigen. Können wir da nicht erhoffen, dass man eine gemeinsame Politik gezielter neuer Ausgangssperren verfolgt, um mit der zweiten Welle des Virus fertig zu werden?“

Le Soir (BE) /

Neue Freiheitsbeschränkungen sind inakzeptabel

Ein offener Brief von 60 Ärzten und Akademikern rechnet in Le Soir mit den Maßnahmen der belgischen Regierung ab:

„Anfänglich war es nötig, eine Überlastung der Krankenhäuser durch Abflachen der Kurve zu vermeiden, was verständlich war. Bislang liegen jedoch keine objektiven Daten über den Nutzen einer Ausgangssperre für die Gesamtbevölkerung vor. Es scheint nun, dass um jeden Preis vermieden werden muss, sich mit einem Virus zu infizieren, dessen Gefährlichkeit nicht über die der saisonalen Grippe hinausgeht. ... Die Regierung war bisher nicht in der Lage, ein Massenscreening zu organisieren, eine Methode, die anerkanntermaßen wirksam ist, um Kranke zu isolieren und die Ausbreitung des Virus einzudämmen. Stattdessen werden die Bürger wieder einmal in ihren Grundfreiheiten eingeschränkt. Das ist nicht länger akzeptabel.“

Magyar Nemzet (HU) /

Die ganze Gesellschaft muss mitziehen

Die Sorglosigkeit der Ungarinnen und Ungarn bereitet Magyar Nemzet Sorgen:

„Den ersten Schock hat Ungarn schon überwunden. Die Furcht, die im Frühjahr vorherrschte, hat deutlich abgenommen. Es wird sehr schwierig werden, die Menschen wieder in eine Atmosphäre der Angst zu versetzen. Das ist ja auch nicht das Ziel, vielmehr sollte dies die allgemeine Vorsicht sein. Die Gefahr ist nicht vorbei. ... Zur effektiven Bekämpfung der Pandemie wird - heute wie gestern - der gemeinsame Einsatz der gesamten Bevölkerung gebraucht.“

Der Standard (AT) /

Schluss mit nationalistischer Pseudo-Leadership

Dass reihenweise neue Risikogebiete benannt werden, missfällt Matthias Strolz, Gründer und ehemaliger Chef der liberalen Partei Neos, wie er in der Tageszeitung Der Standard schreibt:

„Dass jede nationale Regierung Länder und Regionen auf und zu macht, wie es gerade in ihre politischen Dynamiken (und Wahlkämpfe) passt, ist grotesk. ... Die Interventionen müssen entschlossen und nachvollziehbar und gemeinsam abgestimmt sein. Dafür braucht es gemeinsame Entscheidungsgrundlagen - unter anderem eine EU-weite Corona-Ampel: einheitliche Definitionen, straffes Meldewesen und entschlossene Umsetzung der akkordierten Maßnahmen auf regionaler Ebene. Eine solche gemeinsame Vorgangsweise zu entwickeln und zu verabschieden ist keine Raketenwissenschaft. Es braucht dafür nur eines: den politischen Willen. ... Für diese nationalistische Pseudo-Leadership werden wir einen hohen Preis bezahlen.“

La Vanguardia (ES) /

Als europäische Einheit reagieren

Einer möglichen zweiten Pandemie-Welle sollte die EU diesmal geschlossen gegenüberstehen, fordert La Vanguardia:

„Angesichts der Tatsache, dass es schon im Sommer in mehreren Ländern zu Rückfällen kommt, sollte uns die gravierende gesundheitliche Lage, die im Herbst auf uns zukommen könnte, dazu verpflichten, einen außerordentlichen Rat der europäischen Gesundheitsminister einzuberufen, um Kriterien abzustimmen und eine gemeinsame Covid-19-Politik festzulegen. Bei den europäischen Bürgern und Unternehmen würde das für Vertrauen, Klarheit und Vorhersehbarkeit sorgen. Das wäre für alle von Vorteil und würde gleichzeitig zeigen, dass die Europäische Union in der Lage ist, auch als Union zu agieren. Das Chaos, das sich während der ersten Phase der Pandemie abgespielt hat, sollte sich nicht wiederholen.“

Lost in EUrope (DE) /

Union versagt schon wieder

Dass EU-Staaten Reisewarnungen für andere EU-Staaten aussprechen, - wie aktuell Deutschland für Spanien -, ist reine Willkür, kritisiert Eric Bonse auf seinem Blog Lost in EUrope:

„[D]ie meisten Deutschen [steckten sich] in Deutschland mit Covid-19 an, gefolgt von Kosovo und der Türkei. Dann kommen Kroatien, Serbien und Bulgarien, Spanien liegt auf Platz 10 noch hinter Polen! Genauso willkürlich ist die britische Reisewarnung zu Frankreich. ... Und was macht die EU–Kommission, die die Urlauber schützen, die Reisefreiheit sichern und Diskriminierung verhindern wollte? ... Nichts! Die Kommission konnte sich lediglich zu einem Brief an die Botschafter der EU-Staaten durchringen. Darin wird vor Grenzschließungen gewarnt, nicht aber vor den Folgen der Willkür mit Reisewarnungen. Die EU versagt schon wieder - genau wie im Frühjahr, als alles anfing.“