Afghanistan: „Demokratie-Export“ und seine Grenzen

Nach der Rückeroberung der Macht in Afghanistan durch die Taliban hinterfragen europäische Kommentatoren grundsätzlich das westliche Engagement in islamisch geprägten Ländern. Ist ein "Demokratie-Export" ein lobenswertes Unterfangen? Eine aussichtslose Mission? Oder gar eine imperialistische Anmaßung?

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Český rozhlas (CZ) /

Das Problem mit den "westlichen Werten"

Widerstand gegen die bloße Übernahme so genannter westlicher Werte kommt nicht nur aus Afghanistan, sondern wird auch in manchen Ländern Ost-Mitteleuropas geäußert, beobachtet Český rozhlas:

„Für den Westen ist es schwer zu verstehen, dass Ungarn, Polen, Tschechen, Rumänen oder Bulgaren so wirken, als ob ihnen andere Dinge wichtiger wären als Freiheit, eine offene Gesellschaft und Rechtsstaatlichkeit. ... Diese beiden völlig unterschiedlichen Beispiele werfen eine ähnliche Frage auf: ob westliche Staaten ihre Werte und demokratischen Standards den östlichen Gesellschaften aufzwingen sollten, wenn dies in diesen Ländern oft als Manifestation der Arroganz und Überlegenheit des Westens interpretiert wird. Der Westen könnte bei seinen Demokratieexporten sensibler sein.“

Der Tagesspiegel (DE) /

Was für eine Anmaßung

Die Afghanistan-Politik - und nicht nur sie - ist geprägt durch das koloniale Erbe Europas, kritisiert Der Tagesspiegel:

„Geleitet waren die Kolonialisten von der Idee, ihre 'Werte' in die Welt hinauszutragen. Afrika etwa galt ihnen als 'geschichtsloser Kontinent', dessen Menschen angeblich nur darauf warteten, von Europa 'zivilisiert' zu werden. ... In Afghanistan wollten die Bundesregierung und ihre Verbündeten per Militär- und Entwicklungshilfe eben mal so ein Land umkrempeln, in dem 50 Sprachen gesprochen werden und das auf eine Jahrtausende alte Kulturgeschichte zurückblickt. In Mali will man im Namen der 'Stabilität' die unzähligen Migrationsrouten durch die Sahara stilllegen, die mindestens seit der Blütezeit der westafrikanischen Königreiche vor 500 Jahren bestehen. Welch eine Anmaßung!“

Corriere della Sera (IT) /

Nicht nur an die Fehler erinnern

Wer jetzt alles schlechtredet, was in Afghanistan getan wurde, spielt jenen in die Hände, die den Westen per se ablehnen, mahnt Politologe Angelo Panebianco in Corriere della Sera:

„Die verzweifelten Männer, die sich an die Flugzeuge in der Luft klammern, die Frauen, die durch die Rückkehr der Barbaren verängstigt sind, und all diejenigen, die jetzt versuchen zu entkommen, bevor die Hölle sie verschlingt, sind Zeugen dafür, dass es dem Westen trotz zwanzig Jahren Krieg und vieler Fehler gelungen ist, den Afghanen zu helfen, zumindest im Keim eine akzeptable Gesellschaft zu schaffen. ... Warum ist es wichtig, sich nicht nur an die Fehler, sondern auch an das Gute zu erinnern? ... Weil diejenigen, die die westliche Gesellschaft schon immer verabscheut haben, sich anschicken, einen 'großen Prozess' gegen deren Grundsätze und Errungenschaften zu führen.“

Yeni Şafak (TR) /

Islamische Länder in der Pflicht

Die Regierungen islamischer Länder haben nun eine große Verantwortung, betont die islamisch-konservative Tageszeitung Yeni Şafak:

„Sie sollten wiederholt an die Taliban appellieren und alles dafür tun, dass das afghanische Volk in einem weitgehend komfortablen, weitgehend freien Land lebt. Sie sollten den Taliban ein Führungsmodell vorschlagen, das nicht aus Härte, Brutalität und sinnlosen Beschränkungen besteht, sondern die Würde und Ehre des zerrütteten afghanischen Volkes wiederherstellt, Hoffnung für die Zukunft gibt und es schafft, Unterschiede zu tolerieren. Vielleicht geht das nicht. Vielleicht hören die Taliban nicht auf diese Vorschläge. Aber die historische Verantwortung islamischer Länder besteht darin, die Taliban zur 'Vernunft' aufzurufen.“

Irish Examiner (IE) /

Nur aus eigener Kraft

Letztlich können sich nur die Afghanen selbst von den Taliban befreien, glaubt Irish Examiner:

„Immer mehr Kommentatoren beschreiben den potenziellen Schrecken der Taliban-Herrschaft und fordern erneut eine Form der 'westlichen Überwachung' der afghanischen Angelegenheiten. Man kann angesichts dessen nur hoffen, dass die Lektion, die uns die Geschichte lehrt, nicht vergessen wird: Die Probleme Afghanistans werden nur von den Menschen in Afghanistan gelöst werden können. Man kann nur hoffen, dass diese Reise – im Interesse der Unschuldigen – keine allzu blutige und schmerzhafte Reise sein wird. Nichtsdestotrotz werden die Afghanen diese Reise allein antreten müssen. ... Der Westen kann sich nicht länger in das Recht des afghanischen Volkes auf Selbstbestimmung einmischen.“

Delfi (LT) /

Eine Zivilisation lässt sich nicht einfach ändern

Für Delfi war das Engagement der westlichen Länder in Afghanistan ein:

„Reiner Glaubensakt. Ein Versuch, eine Kirche der Menschenrechte in einem von Andersgläubigen eroberten Territorium zu bauen. Ein Kreuzzug mit einer Regenbogenfahne. ... Klar, dass es uns leid tut um die Afghanen, die die Freiheit lieben und unter den religiösen Fanatikern leiden müssen. Aber der Westen kann den traditionalistischen Osten nicht zum Westen verwandeln - nicht mit Gewalt, nicht mit Geld, nicht mit Bildung. Es geht einfach nicht. Damit es für die unseren klarer ist: Eine Zivilisation ist kein Geschlecht, sie lässt sich nicht einfach ändern.“

Corriere della Sera (IT) /

Wer über Demokratie-Eignung entscheiden sollte

Ob eine Bevölkerung für die Demokratie bereit ist, sollten nicht die Exporteure entscheiden, mahnt Historiker Ernesto Galli della Logia in Corriere della Sera:

„Heute sind viele schnell dabei zu behaupten, dass die Demokratie - die auf eine historische Entwicklung zurückgeht, die für die Kultur des Westens spezifisch ist - nur für die Bevölkerungen geeignet ist, die diese Kultur teilen. ... Nur: Wer entscheidet über die Gültigkeit dieses Gesetzes der kulturellen Unvereinbarkeit? ... Es liegt auf der Hand, dass dies wohl von den Betroffenen entschieden werden sollte, also von den Menschen, die der 'anderen' Kultur als der unseren angehören. ... Auf das Argument der kulturellen Unvereinbarkeit berufen sich aber leider regelmäßig diejenigen, die die Betroffenen regieren.“

Echo Moskwy (RU) /

Auf den Modernisierungsdruck folgte Gegenwehr

Echo Moskwy findet, dass Europa das Modernisierungspotenzial der islamischen Gesellschaften falsch taxiert hat:

„Man sieht jetzt oft Bilder, wie Kabuler oder Teheraner Studentinnen in den 1960er Jahren mit Miniröcken auf Café-Terrassen sitzen. Aber man sollte die Geschichte des letzten Drittels des 20. Jahrhunderts überdenken. Als nicht nur die Eliten dieser Länder, sondern auch ein großer Teil der Bevölkerung mit der westlichen Moderne konfrontiert wurde, begann ein Versuch der Selbstidentifikation durch Rückkehr zu den Grundwerten. ... Dabei hat der Westen (im weitesten Sinne, inklusive Israel und UdSSR) mit seiner Außenpolitik den politischen Islam erst zu einer sich vor äußeren Kräften schützenden Strömung gemacht. Und je stärker der Modernisierungsdruck von außen wurde, umso heftiger wurde die Gegenwehr.“

Hürriyet (TR) /

Das Land war nicht säkular

Ahmet Hakan, bekannter Hürriyet-Kolumnist und Moderator politischer Fernsehsendungen bei CNNTürk, kritisiert eine Falschdarstellung Afghanistans in den türkischen und internationalen Medien:

„Afghanistan war nicht bis vor einer Woche ein Land, in dem vor lauter Freiheit auf den Straßen getanzt wurde. Es war eine islamische Republik, in der es keinen Säkularismus gab. Auch wenn sie nicht sehr streng ausgelegt wurden, galten religiöse Regeln. Was ich sagen will: Schenken Sie den ignoranten Anspielungen und Kommentaren wie 'die Taliban haben die Scharia ausgerufen', 'die Taliban sind gekommen und der Säkularismus ist verschwunden', keinen Glauben. Richtig ist: Afghanistan war eine islamische Republik, aber eben kein so strenges islamisches Emirat, wie es die Taliban wünschen.“