Kriegsdiplomatie: Hat Kissinger Recht?

Während des Weltwirtschaftsforums in Davos hat sich der ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger zu möglichen Auswegen aus dem Ukraine-Krieg geäußert. Eine demütigende Niederlage Moskaus sei gefährlich, territoriale Zugeständnisse an Russland hingegen wären eine Investition in einen langfristigen Frieden auf dem Kontinent. In Europas Kommentarspalten gibt es heftige Reaktionen.

Alle Zitate öffnen/schließen
Pravda (SK) /

Die Geschichte lehrt uns das Gegenteil

Kissinger's Idee ist zweifellos verlockend, aber grundlegend falsch, findet Pravda:

„Welche Garantien hat die Ukraine, dass Russland nicht noch einmal einmarschieren wird, nachdem es nicht gezögert hatte, das schon zweimal zu tun? ... Die Antwort von Präsident Selenskyj, der solche Ideen mit dem Münchner Verrat [von 1938] verglich, ist treffend. Schon damals dachten Politiker naiv, Hitler würde Ruhe geben, wenn sie Teile der von Deutschen bewohnten tschechoslowakischen Grenzgebiete opferten und das Sudetenland dem deutschen Reich angliederten. Wir wissen, dass das den Krieg nicht verhindert hat, sondern eine Schande war. Das von Chamberlain in München ausgehandelte Papier ist ein ausreichendes Andenken daran, dass Außenpolitik nicht auf diese Weise betrieben werden kann.“

Novinky.cz (CZ) /

Wir wären die Nächsten

Bei den Aussagen Kissingers fühlt sich auch Novinky.cz an München 1938 erinnert:

„Es gibt viele im Westen, die es Putin bequem zu machen versuchen und mahnen, dass er sein Gesicht nicht verlieren dürfe. Jetzt Kissinger. Das Leitmotiv ist das gleiche: Geben wir ihm, was er will, lasst uns unsere Ruhe haben. Und die Ukrainer? ... Der slowakische Premier Eduard Heger warnt zurecht: 'Wir sind die nächsten in der Reihe. Wenn die Ukrainer nicht gewinnen, wissen wir, dass Russland weiter gehen wird. Wir müssen das verstehen, insbesondere in der Europäischen Union.' Was würde Putin daran hindern, das Verfahren zu wiederholen - bei den baltischen Staaten, der Slowakei oder Tschechien?“

Večernji list (HR) /

Kissinger hat Recht

Während des Weltwirtschaftsforums in Davos zeichnete der ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger ein pragmatisches Bild einer Friedenslösung für die Ukraine, findet Večernji list:

„Henry Kissinger meint, der Westen müsse aufhören zu versuchen, Russland zu besiegen, da dies zu einem noch größeren Krieg führen könnte. Er meint auch, dass die Ukraine einen Teil ihres Territoriums an Russland abtreten sollte. ... Kissinger wies auf das langfristige Verhältnis zwischen Europa und Russland hin: Die europäischen Staats- und Regierungschefs dürften die Beziehungen nicht aus den Augen verlieren, da alles andere zu einer langfristigen Destabilisierung Europas und einer Neuordnung der europäischen Machthierarchie führen würde. Außerdem drohe die Schaffung einer dauerhaften Allianz zwischen Russland und China.“

NV (UA) /

Neue mitteleuropäische Avantgarde

Europa könnte geopolitischer Player werden, meint der ukrainische Ex-Außenminister Pawlo Klimkin in NV:

„Mitteleuropa hat begriffen: Putin, der wie Koschtschej [ein hässlicher und schwer zu beseitigender Bösewicht der russischen Mythologie] in seinem Kreml sitzt, will die gesamte Nato wieder auf den Stand von 1997 zurückwerfen. ... Mitteleuropa weiß, dass es handeln muss, und hat seine eigene Macht erkannt. Das alte Europa muss so schnell wie möglich begreifen, dass es zusammen mit dem neuen cooler ist in dieser Welt. Nur zusammen, mit dieser Bereitschaft, vorwärts zu gehen und für sich zu kämpfen, hat Europa eine Chance in der Weltgeopolitik. Sonst wird es an der Peripherie enden. ... Dies ist eine einmalige Chance, und sie kann von der Ukraine kommen. Leider verstehen das nicht alle, vor allem nicht in Paris. “

Lietuvos rytas (LT) /

Vilnius sollte Berlin gegenüber dankbarer sein

Lietuvos rytas findet Litauen vorlaut:

„Das Prinzip lautet: Wir sind die klügsten, wir haben am besten den russischen Chauvinismus verstanden und wissen am besten, was jetzt auf der Welt abgeht - und alle, die anders denken, sind die nützlichen (klar - für Putin) Idioten. Man kann etwas Verständnis mit dem ukrainischen Botschafter in Deutschland haben und die Geduld der Deutschen bewundern, dass sie ihn immer noch nicht nach Hause geschickt haben. ... Aber den blutenden Ukrainern zu verzeihen, ist etwas ganz anderes, als den Litauern, die Berlin auf der Tasche sitzen. ... Deutschland hat die meisten Soldaten zur Verteidigung Litauens geschickt und ist nun der größte Geldgeber. ... Ist es nicht dreist, ständig von jedem Zaun zu krähen, dass die Deutschen dumm, feige und Putins Arschkriecher sind?“

France Inter (FR) /

Selenskyj an der Verhandlungsfront

France Inter sieht im Setzen auf Diplomatie einen Schritt in die richtige Richtung:

„Der Realismus, den der ukrainische Präsident an den Tag legt, steht im Gegensatz zu der Idee eines rein militärischen Sieges, den sich einige in den letzten Wochen vorgestellt und laut verkündet hatten. Dennoch scheinen ernsthafte Verhandlungen in nächster Zeit noch nicht möglich, weil die Logik der Waffen noch nicht an ihr Ende gekommen zu sein scheint. Aber de facto ist eine weitere Kriegsfront die der öffentlichen Diplomatie, der Signale, die die eine oder die andere Seite manchmal auf widersprüchliche Weise aussendet. Die Aussage von Präsident Selenskyj gehört dazu.“

La Repubblica (IT) /

Eine ausgestreckte Hand

Italien hat der Uno einen Plan für den Frieden in der Ukraine vorgelegt. La Repubbica schöpft Hoffnung:

„Die vier Kernpunkte des Plans bieten einen Rahmen für die Aufnahme von Gesprächen über einen Waffenstillstand, einschließlich des Seekorridors, wobei eine schrittweise Verringerung der Sanktionen im Gegenzug zu konkreten russischen Schritten in Aussicht gestellt wird. ... An dem Grundsatz der territorialen Integrität der Ukraine wird festgehalten, doch die Krim könnte, wie Selensky gestern ebenfalls andeutete, ausgeklammert werden. Der Plan gewährt Putin die Aussicht auf eine Konferenz zur Neudefinition der Machtverhältnisse in Europa, eine unabdingbare Bedingung für den Kreml. Voraussetzung ist ein Waffenstillstand, der heute jedoch der schwierigste Aspekt zu sein scheint.“

Eesti Päevaleht (EE) /

Keinen Frieden um jeden Preis

Der ehemalige Verteidigungsminister Margus Tsahkna warnt in Eesti Päevaleht vor einem aufgezwungen Kriegsende in der Ukraine:

„Manche Staatsoberhäupter wollen Frieden um jeden Preis, um ihr Gewissen wegen den vielen zivilen Opfern zu beruhigen. Man hofft, dass man nach dem Frieden zum business as usual zurückkehren kann. Estland hat die Ukraine sowohl militärisch, finanziell und wertebasiert stark unterstützt und das Geschehen zum Völkermord erklärt. Wir müssen dafür stehen, dass der Westen nicht vom Krieg ermüdet den leichteren Weg sucht mit einem aufgezwungenen Frieden. Estland muss das strategische Ziel des Westens formulieren und überall verteidigen. Das ist eine Welt ohne Putins Russland, damit es uns nie wieder gefährden kann.“

The Daily Telegraph (GB) /

Von wegen geeinter Westen

Bei der Suche nach Wegen zur Beendigung des Ukraine-Kriegs zieht der Westen leider nicht an einem Strang, klagt The Daily Telegraph:

„Bei allem Gerede über ein gemeinsames Vorgehen des Westens ist das Bild, wenn es darum geht, auf Putins Aggression zu reagieren, weitaus zerrissener – und es geht immer stärker in diese Richtung. ... Das westliche Bündnis ist nicht so geschlossen, wie wir vielleicht glauben möchten. Ja, Putin hat uns in diesem Jahr alle geschockt, und seine Taten erschüttern uns. Aber wie darauf reagieren? Das bleibt höchst unklar. Der Westen ist in seinem Entsetzen vereint. Aber wir sind uns alles andere als einig, wenn es darum geht, was wir angesichts dessen tun sollen.“