Rechtsstaat: EU droht Ungarn mit Milliardenkürzung

Die EU-Kommission droht, Ungarn 7,5 Milliarden Euro aus dem Gemeinschaftshaushalt vorzuenthalten, sollte das Land nicht bei der Verbesserung der Rechtsstaatlichkeit bis November nachlegen. Offenbar erkennt man in Brüssel jedoch bereits ein Einlenken Budapests, nachdem Premier Orbán angekündigt hatte, eine Antikorruptionsbehörde einzurichten. Bleibt die Kommission hart?

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La Croix (FR) /

Nicht zu Ende gedacht

Es sollte eine ehrliche Diskussion über die möglichen Konsequenzen der Entscheidung geben, betont La Croix:

„Das Europäische Parlament hat mit überwältigender Mehrheit einen Text gebilligt, in dem Orbáns Regierung als 'hybrides Regime der Wahlautokratie' bezeichnet wird. ... Hinzu kommt Viktor Orbáns ambivalentes Verhältnis zu Russland. All dies wirft die Frage nach der Mitgliedschaft Ungarns in der EU auf. Der Ausschluss eines Mitglieds ist in den Verträgen nicht vorgesehen. Doch finanzielle Sanktionen, sollten sie umgesetzt werden, könnten die Situation umkehren: Sie würden Ungarn unweigerlich dazu bringen, das eigene Interesse am Verbleib in der EU zu hinterfragen. Wenn dies der gewünschte Effekt ist, sollte er öffentlich diskutiert werden.“

Helsingin Sanomat (FI) /

Im Interesse der Bürger

Maßnahmen gegen Korruption helfen vor allem den Ungarn selbst, betont Helsingin Sanomat:

„Die ungarische Regierung hat den Druck der EU stets als Angriff gegen das ungarische Volk und seine frei gewählten Werte gebrandmarkt. Das ist nicht der Fall. Im Gegenteil, Europa handelt im Interesse der ungarischen Bürger, indem es die Regierung zwingt, die Korruption zu bekämpfen und die Verfahren für öffentliche Ausschreibungen zu verbessern. Wenn die Entwicklung in die von der EU gewünschte Richtung geht, und das Geld nicht an einige wenige Auserwählte fließt, wird es mehr Geld für die ungarischen Verbraucher geben. Gleichzeitig verteidigt die EU die Interessen der europäischen Verbraucher. Ungarn ist einer der größten Nettoempfänger in der Union.“

Gazeta Wyborcza (PL) /

Das taumelnde Brüsseler Gefährt rollt weiter

Gazeta Wyborcza rechnet Piotr Buras, Chef der Denkfabrik European Council on Foreign Relations in Polen, mit einem EU-typischen Kompromiss:

„Orbán wird sich zu den von der EU geforderten Reformen verpflichten. Dies wird es den Mitgliedstaaten ermöglichen, von der Kürzung der ungarischen Mittel in Höhe von 7,5 Milliarden Euro abzusehen. Orbáns Zusagen werden in Ungarns Wiederaufbauplan festgeschrieben, so wie es auch bei Polen geschehen ist. Auf diese Weise kann die Kommission den Plan akzeptieren und gleichzeitig ihr Gesicht wahren: Das Geld wird erst fließen, wenn Orbán all seine Verpflichtungen erfüllt hat. Ob dies der Fall sein wird, wird die Zeit zeigen. Die Verteidiger der Rechtsstaatlichkeit werden sich die Haare raufen, und das wankende und taumelnde Gefährt der EU wird vorwärts rollen. Denn so sieht die Realität in der EU aus.“

Népszava (HU) /

Freude im Schatten

Selbst wenn Ungarn die EU-Gelder letztlich erhält, bleibt dieses Verfahren nicht ohne Konsequenzen, meint Népszava:

„Die wolkenlose Stimmung [in der Kommunikation der ungarischen Regierung] wird definitiv von zwei Tatsachen überschattet. Einerseits hat die EU noch nie einen ihrer Mitgliedstaaten mit so einer riesengroßen, konkreten Strafe bedroht. Das kann der Ministerpräsident Viktor Orbán nicht mal bis 2060 vergessen machen. Andernseits beinhaltet die mit der Kommission erreichte Einigung das Geständnis, dass Ungarn bis zum Halse im Sumpf der Regierungskorruption drinsteckt.“

Jornal de Notícias (PT) /

Nicht die letzte rote Karte

Jornal de Notícias erwartet, dass die Kommission finanzielle Druckmittel bald auch auf andere Mitgliedstaaten anwenden könnte:

„Mit der Entscheidung des Europäischen Rates - die von der Europäischen Kommission ratifiziert werden muss - scheint Brüssel den totalitären Praktiken der Regierung von Viktor Orbán, der bisher mit den verbalen Drohungen gut ausgekommen ist, endlich die rote Karte gezeigt zu haben. ... Lasst uns achtsam bleiben, denn wir könnten bald über andere europäische Staaten sprechen. Achtsam wegen der italienischen Wahlen am kommenden Wochenende. Die Autokratien erobern allmählich das alte Europa.“

24.hu (HU) /

Alles nur ein Bluff?

Die Juristin Zsuzsa Sándor äußert sich in 24.hu skeptisch gegenüber den Versprechungen aus Budapest:

„Das Schönste am 'Rechtsstaat' in Ungarn ist, dass es bereits zahlreiche Behörden gibt, deren Aufgabe es ist, die Tätigkeit der Regierung zu überwachen. … Das Problem ist gerade, dass die Fidesz-Regierung all diese Behörden erdrückt hat, sodass nun keine von ihnen tatsächlich unabhängig ist. ... Die EU-Kommission wird Garantien brauchen, jedoch scheint sie die bisherigen Versprechen der Regierung zu würdigen. Dies kann auch bedeuten, dass sie abwarten wird, wie die Verpflichtungen erfüllt werden und erst dann entscheidet, ob sie das Rechtsstaatlichkeitsverfahren beendet oder fortsetzt.“

Die Presse (AT) /

Orbán wird sich nicht grundsätzlich ändern

Die EU-Kommission sollte sich nicht auf faule Kompromisse einlassen, rät Die Presse:

„[E]ine Anti-Korruptionsbehörde oder andere Einzelmaßnahmen werden nicht ausreichen, dieses wunderbare Land zurück zu einem demokratischen Rechtsstaat zu führen. Es bedarf eines Gesamtumbaus, einer Rückbesinnung auf liberale Grundsätze. Nach all dem, was Orbán in seinem Land und in den Beziehungen zu seinen europäischen Partnern angerichtet hat, ist es schwer vorstellbar, dass ihm das selbst gelingt. Um es bildlich auszusprechen: Seine Macht ist zu breit geworden, als dass er noch über den eigenen Schatten springen könnte.“

Rzeczpospolita (PL) /

Brüssel beendet die Waffenruhe

Die Haltung der Kommission ist auch ein Signal an Polen, glaubt Rzeczpospolita:

„Die Botschaft aus Brüssel ist eindeutig. Der Waffenstillstand mit Ungarn ist vorbei, aber auch der, der mit Polen nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine bestand. Ja, Polen ist aufgrund seines Potenzials und seiner geografischen Lage nach wie vor ein strategisch wichtiges Land, aber nicht mehr ganz so wie zum Zeitpunkt, als es so aussah, als würde Wladimir Putin die gesamte Ukraine bis an die Grenzen unseres Landes übernehmen. Zur Verteidigung der Demokratie an der Weichsel wird die Europäische Kommission daher eine harte Haltung gegenüber [der Mittelvergabe aus dem] Wiederaufbauplan einnehmen und möglicherweise auch Gelder aus dem 'normalen EU-Haushalt' einbehalten.“

Pravda (SK) /

Dieser Kurs kann nicht toleriert werden

Für Pravda ist es verständlich, dass Europa den warnenden Finger hebt:

„Orbáns Politik ist ein Lehrbeispiel aus dem Handbuch für Möchtegern-Diktatoren, die sich versehentlich in einer Demokratie wiedergefunden haben. Es ist ein Beispiel dafür, wie man schrittweise und langsam die Grundpfeiler der Demokratie abbaut und eine unfreie Gesellschaft aufbaut. ... Das kann niemand tolerieren, der es mit der Demokratie ernst meint. Es sei denn, man will in einem Einparteienstaat leben, der Minderheiten entehrt, die Unabhängigkeit der Justiz nicht respektiert, in dem Korruption wuchert oder Medien ausgeschaltet werden, die nicht nach dem Geschmack der Regierungspartei sind.“