Italien: Warum ertranken 67 Bootsflüchtlinge?

Der Tod von 67 Bootsflüchtlingen vor der Küste Kalabriens am vergangenen Wochenende treibt Italien weiterhin um. Nach Angaben der zuständigen Hafenbehörde hätten die Menschen gerettet werden können. Die italienische Presse richtet Kritik sowohl an die Behörden als auch die Regierung in Rom, namentlich Innenminister Matteo Piantedosi und Matteo Salvini, Minister für Infrastruktur. Europas Presse beklagt ein EU-weites Versagen.

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La Repubblica (IT) /

Heuchlerische Verkehrung der Tatsachen

Die Regierung muss zur Verantwortung gezogen werden, fordert La Repubblica:

„Hinter diesem Massaker stehen eine strafrechtliche Verantwortung, die von der Justiz festgestellt werden wird, und eine kolossale politische Verantwortung der Regierung Meloni. Sie betrachtet die Einwanderung als eine Angelegenheit der öffentlichen Ordnung und stellt das Leben von Kindern, Männern und Frauen an die zweite Stelle. Es ist dieselbe dramatisch heuchlerische Sichtweise, die die Minister Salvini und Piantedosi dazu treibt, die Schuld für die tödliche Ineffizienz zu verschleiern, indem sie die Realität der Tatsachen umkehren: Für sie ist das Problem die Abreise der Flüchtlinge und nicht diejenigen, die sie an den Felsen zerschellen ließen.“

La Stampa (IT) /

Alle weisen die Schuld von sich

Einen Schatten auf die Regierung wirft auch das kürzlich in Kraft getretene Gesetz, das die Arbeit privater Seenotretter erschwert, merkt La Stampa an:

„Es ist klar, dass das, was in der Nacht von Samstag auf Sonntag geschah, die Strategie der Regierung, die Rettung durch NGO-Schiffe zu erschweren, in Frage stellt. Die eingeleiteten Ermittlungen zu dem Vorfall bringen zudem weitere schwerwiegende Details ans Tageslicht. Die Hafenbehörde versichert, dass Rettungen möglich gewesen wären und dass die Seebedingungen nicht so widrig gewesen wären, wie angegeben wurde. Piantedosi beschuldigt Frontex, deren Flugzeug das mit Flüchtlingen beladene Boot zuerst entdeckte, keinen Alarm ausgelöst zu haben. Der Mechanismus der Schuldabwälzung ist in vollem Gange.“

El País (ES) /

Chronische Krise

El País findet, Europa lässt Italien allein:

„Das Ausmaß der Tragödie erfordert eine gründliche Untersuchung, und die italienischen Behörden müssen zur Rechenschaft gezogen werden. Darüber hinaus wirft das Schiffsunglück in Kalabrien erneut ein Schlaglicht auf die tödliche Ineffizienz der europäischen Politik bei der irregulären Einwanderung im Mittelmeer. In den vergangenen zehn Jahren haben die italienischen Regierungen zu Recht um Hilfe für die Bewältigung einer chronischen Krise gebeten. Allein im Jahr 2022 kamen 104.061 Menschen auf dem Seeweg an. ... Der Tod von Migranten im Mittelmeer ereignet sich fast täglich und ist für die Union nicht nur ein Prüfstein für eine bestimmte Politik, sondern auch für ihre Grundprinzipien.“

Jornal de Notícias (PT) /

Vergebliches Warten auf neue Lösungen

Jornal de Notícias kritisiert, dass die EU bei der Frage der Migration nicht weiter kommt:

„Nach Jahren gescheiterter Verhandlungen, Patt-Situationen und Blockaden hat die Europäische Kommission im September 2020 den Vorschlag für einen neuen Migrations- und Asylpakt vorgelegt, der einen vorhersehbaren und verlässlichen gemeinsamen Rahmen schaffen soll. Seitdem sind mehr als zwei Jahre vergangen, ohne dass der Plan angenommen wurde. Stattdessen wurde ein neuer Streit angefangen, nämlich um die Frage, ob an den europäischen Außengrenzen Mauern errichtet werden sollen und wer sie finanzieren soll. ... Mit anderen Worten: Diese Frage bedeutet eine gefährliche Kehrtwende und einen Rückschritt für die europäische Idee selbst.“

The Independent (GB) /

Kein Mensch ist illegal

Die Art und Weise, wie oft über schutzsuchende Menschen gesprochen wird, empört The Independent:

„Man muss daran erinnern, dass es so etwas wie einen 'illegalen Migranten' nicht gibt, denn es existiert ein universelles Menschenrecht in den Unterzeichnerstaaten der Europäischen Menschenrechtskonvention, den Asyl- und Flüchtlingsstatus zu beantragen. So einfach ist das. Und sollte der Antrag abgewiesen werden, handelt es sich immer noch um Menschen, die etwas Besseres verdienen als den entmenschlichenden Stempel 'Illegale'. Handelt es sich um Wirtschaftsmigranten, muss man auch sagen, dass ihre Arbeitskraft dringend benötigt wird.“

Wiener Zeitung (AT) /

Lebensrettung ist Pflicht

Seenotrettung darf nicht länger Privatsache bleiben, fordert die Wiener Zeitung:

„Es sind Horrormeldungen wie diese, die seit zehn Jahren in erschreckender Regelmäßigkeit für Schlagzeilen sorgen. Genauso frustriert die Tatsache, dass es keine einfachen Lösungen gibt, die daran schnell und einfach etwas ändern könnten. Für eine liberale Migrations- und Asylpolitik gibt es im Westen keine politischen Mehrheiten. … An der Pflicht zur Lebensrettung darf es kein Rütteln geben. Staaten können diese nicht an Private delegieren. Von daher spricht einiges dafür, diese auch staatlich und mit EU-Hilfe zu organisieren.“

La Repubblica (IT) /

Als ob wir es nicht gewusst hätten

Italiens Regierung, die in der vorigen Woche ein Gesetz verabschiedete, das die Arbeit ziviler Seenotretter erschwert, trägt Verantwortung für dieses Desaster, empört sich La Repubblica :

„Die gestrigen Todesfälle sollten uns zumindest wachrütteln und dazu bringen, politische Entscheidungen, die von Unmenschlichkeit diktiert wurden, zu bekämpfen: Dekrete gegen die Seenotrettung, die uns beschämen. Als Italiener, als Menschen, die Zeugen dieses endlosen Gemetzels sind. Was muss noch geschehen, bevor wir das Bedürfnis verspüren, zu schreien, dass es sich nicht um eine Naturkatastrophe handelt, sondern um das Ergebnis törichter Entscheidungen? Wie viele Tote muss es noch geben, bis man nicht mehr sagen kann, ich habe nichts gewusst? ... Wir wissen es, wir wissen es sehr gut.“

Süddeutsche Zeitung (DE) /

Zynische Verleumdung der Helfer

Dass die italienische Regierung die Seenotretter kriminalisiert und schikaniert, empört den Italien-Korrespondenten der Süddeutschen Zeitung, Oliver Meiler:

„Die Migranten legen nicht ab, weil sie wissen, dass sie von NGOs gerettet werden, wie die Rechte behauptet. Diese Aussicht ist allerhöchstens eine Lotterie, eine Wette aufs Leben. Nein, der Drang nach einem besseren, würdigeren, sichereren Leben ist so groß, dass es diese Menschen trotz höchster Gefahren aufs Meer treibt. Wie zynisch ist es, die paar Helfer zu behindern, die sie in der Not retten können?“