2023: Gespaltene Welt, gespaltene Gesellschaften?

Nach einem von Krieg und Konflikten geprägten Jahr 2023 fragen sich europäische Kommentatoren, welche Folgen sich daraus für die Welt und einzelne Länder ergeben. Sie debattieren, ob sich immer unversöhnlichere Fronten zwischen freiheitlich-rechtsstaatlichen und autoritären Kräften abzeichnen.

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Corriere della Sera (IT) /

Besser miteinander statt gegeneinander

Die Welt steht vor einem Scheideweg, betont der Physiker und Pazifist Carlo Rovelli in Corriere della Sera:

„Auf der einen Seite die multipolare, demokratische, gemeinsame Bewältigung der gemeinsamen Probleme, bei der die Interessen des gesamten Planeten berücksichtigt werden. Auf der anderen Seite die Entschlossenheit der Vereinigten Staaten, den Planeten in Verbündete und Feinde zu spalten und die Vorherrschaft einer Minderheit durchzusetzen, die sich mit der leeren Rhetorik der Demokratien gegen Schurkenstaaten maskiert. Die Frage ist, ob man entweder in Begriffen des Konflikts oder in Begriffen der Zusammenarbeit denkt. Ob man entweder versucht, Kriege zu gewinnen, oder versucht, sie zu beenden und zu vermeiden.“

De Volkskrant (NL) /

Westen muss moralischen Kompass wiederherstellen

2023 zeigte sich das neue Selbstbewusstsein des globalen Südens, stellt De Volkskrant fest:

„Die Bedenken des Westens, dass es sich bei den neuen Geschäftspartnern um autokratische Länder handelt, die etwa den Respekt von Menschenrechten weniger wichtig finden, klingen immer schriller und unglaubwürdiger. Dem Westen wird zunehmend Doppelmoral vorgehalten und dass er selbst wegschaut bei Menschenrechtsverletzungen, wenn es ihm passt wie beim Stoppen von Flüchtlingen an Europas Grenzen. ... Der Westen täte gut daran, seinen moralischen Kompass wiederherzustellen und zur Emanzipation des globalen Südens beizutragen, der zu Recht eine gleichwertige Rolle auf der Weltbühne einfordert.“

Süddeutsche Zeitung (DE) /

Rechtsaußen-Parteien als Widersacher der EU

Fast in allen Ländern Europas waren 2023 die Nationalisten auf dem Vormarsch, stellt die Süddeutsche Zeitung besorgt fest:

„Für die Europäische Union ergibt sich durch den Rechtsruck langfristig die Perspektive, dass sich ihr gesamter Charakter ändern könnte. Die EU als tendenziell progressives, supranationales politisches Projekt käme an ihr Ende, die ambitionierte Klima- und Umweltpolitik würde blockiert, die 'Festung Europa' noch stärker ausgebaut. Ein solches 'Europa der Vaterländer' würde sich vor allem zum Ziel setzen, die europäische Zivilisation gegen mutmaßliche Bedrohungen von außen zu schützen.“

Deník N (CZ) /

Als lebten verschiedene Völker in einem Land

Die Wahlen von 2023 in der Slowakei und Polen haben die tiefe Zerrissenheit der dortigen Gesellschaften belegt, konstatiert Deník N:

„Der eine Teil vertritt eine mehr oder weniger liberale politische Ausrichtung, der andere hat Angst vor Veränderungen und kein Vertrauen in die demokratischen Institutionen. ... In Polen hat diesmal der erste Teil die Wahlen gewonnen, in der Slowakei der zweite. Die Situation beginnt so auszusehen, als ob in jedem dieser Länder zwei verschiedene Völker leben würden – noch nicht offen verfeindet, aber bereits einander fremd. ... Wie wir wissen, trifft dieses Merkmal in vollem Umfang auch auf Tschechien zu. Es wäre wirklich schlimm, wenn diese Krankheit am Ende auch in Deutschland in vollem Umfang ausbrechen würde.“

Tygodnik Powszechny (PL) /

Tusk zog die richtigen Schlüsse

In Polen war es die Öffnung gegenüber anderen Parteien, die der Opposition zum Sieg verholfen hat, reflektiert Tygodnik Powszechny:

Tusk hat gewonnen, weil er das verstanden hat, was Kaczyński nicht verstand. Als die Umfragewerte der PiS zu sinken begannen, gab der Parteichef Vollgas, um den harten Kern der Wählerschaft weiter zu mobilisieren und der Konkurrenz die Luft zum Atmen zu nehmen. Gewonnen hat er nichts: Er begann, sich selbst zu strangulieren, und beleidigte mit seiner Sprache alle möglichen Koalitionspartner. Tusk wählte den entgegengesetzten Weg. ... Auch er wollte die Konkurrenz in seinem Umfeld abwürgen, doch er besann sich eines Besseren und reichte den künftigen Koalitionspartnern die Hand, da er sah, dass sie seinem Diktat nicht zustimmen würden.“