State of the Union: Wie beherzt ist von der Leyen?

Zum ersten Mal seit ihrer Wiederwahl hat Ursula von der Leyen am Mittwoch eine Rede zur Lage der Europäischen Union gehalten. "Dies muss der Moment der europäischen Unabhängigkeit sein", forderte sie im EU-Parlament. Kommentatoren streiten darüber, wie kämpferisch die EU-Kommissionspräsidentin tatsächlich ist.

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Die Zeit (DE) /

Ein richtiger Satz zur richtigen Zeit

Das war eine starke Rede, lobt die Zeit:

„Europe is in a fight – das war ihr erster, aufrüttelnder Satz. 'In einer Welt der Fleischfresser können wir nicht Vegetarier sein!' – dieser Satz stammt von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron. Obwohl von der Leyen das Bild vom Vegetarier unter den Fleischfressern nicht aufgriff, zog es sich als Motiv durch ihre gesamte, fast einstündige Rede. Es muss vorbei sein mit der europäischen Naivität, Europa darf nicht aus Nostalgie in der Welt von gestern verharren. Deutlicher lässt sich die Wirklichkeit und die Gefahr nicht beschreiben. ... Ein richtiger Satz zur richtigen Zeit.“

L'Echo (BE) /

Von Kampfeslust keine Spur

Von der Leyen zeigt leider nur verbal die Zähne, klagt hingegen L'Echo:

„Die Kommissionspräsidentin will ein kämpferisches Europa, aber sie verkörpert das Europa, das seinen ersten Kampf verweigert hat, indem sie Donald Trump gegenüber keinen Widerstand geleistet hat. Sie will ein geopolitisches Europa: Sie hat ein Abkommen über wirtschaftliche Unterwerfung unterzeichnet, das sie jedoch als 'fair und ausgewogen' bezeichnet. Sie will ein Europa, das in seine Zukunft und in seine Energiewende investiert: Sie kündigt massive Investitionen und Einkäufe in den USA an. … An einem Wendepunkt seiner Geschichte leidet Europa sowohl an mangelnder Einheit als auch an einer Glaubwürdigkeitskrise: Es braucht weit mehr als eine Rede, um zu echter Eigenständigkeit zu gelangen.“

Dagens Nyheter (SE) /

Demütigung nicht weiter hinnehmen

Das in ihrer Rede zur Lage der EU von von der Leyen gelobte Zollabkommen mit den USA ist nach Ansicht von Dagens Nyheter eine Demütigung, denn die USA wollen der EU die Regeln diktieren, indem sie alles mit der Frage der Sicherheit verknüpfen:

„Das ist nicht nur demütigend, sondern auf lange Sicht lebensbedrohlich für die Union: Warum sollten Staaten Macht an eine europäische supranationale Ebene abgeben, wenn die Entscheidungen sowieso nicht dort getroffen werden? Die EU muss eine rote Linie ziehen. Keine weiteren Zugeständnisse. Europa kann es sich leisten, für seine eigene Sicherheit zu zahlen, die Ukraine zu unterstützen und im Falle eines Waffenstillstands Garantien zu geben. Wir können die fehlenden militärischen Fähigkeiten erwerben. Wir müssen sie erwerben.“

Handelsblatt (DE) /

Nicht auf Augenhöhe mit den USA und China

Das Handelsblatt verknüpft keine großen Erwartungen mit der Rede:

„Von der Leyen wird aufzählen, was sie in ihrer zweiten Amtszeit schon alles angeschoben hat – vom Bürokratieabbau über die Industriepolitik bis hin zur Aufrüstung. Tatsächlich mangelt es nicht an Ankündigungen. Doch an der Umsetzung hapert es. Von der Leyen baut viele Luftschlösser. ... Der Hauptgrund: Europa bleibt Europa. 27 Mitgliedstaaten bremsen immer da, wo die EU-Integration an ihre vermeintlichen nationalen Interessen stößt. ... Europa sei die Lösung, sagen deutsche Politiker gern. Doch wenn es ernst wird und sie für eine bestimmte Aufgabe Macht oder Geld an Brüssel abgeben sollen, heißt es plötzlich: Nein, das könne Berlin viel besser selbst. Mit dieser Einstellung, multipliziert mit 27, wird Europa nie den Rückstand auf die USA und China aufholen.“

Svenska Dagbladet (SE) /

Sprache der Macht lernen

In grundsätzlichen Fragen fordert Svenska Dagbladet mehr Entschiedenheit von der EU:

„Im Laufe der Jahre hat die EU bemerkenswerte Fähigkeiten im Umgang mit Krisen bewiesen. Dann wird die Kleinstaaterei bei EU-Verhandlungen gegen Einheit und Stärke eingetauscht. ... Europa muss seine historische Rolle wahrnehmen und die Verantwortung für sein geopolitisches Erwachen übernehmen. Europa wurde als erfolgreicher Markt geboren. Nun muss es die Sprache der Großmacht lernen.“

Les Echos (FR) /

Draghis Analyse ist Konsens

Immerhin herrscht einmal Einigkeit, betonen Guillaume Maujean und Nick Blow von der Beratungsfirma Brunswick Group in Les Echos:

„Europa ist es gelungen, eine Diagnose zu erstellen, der alle zustimmen. ... Der von Mario Draghi vor einem Jahr vorgelegte Bericht beschrieb die strukturellen Schwächen treffend: den Verlust der Wettbewerbsfähigkeit gegenüber den USA und China, den massiven Finanzierungsbedarf und die Dringlichkeit einer gemeinsamen Industriepolitik. Dieser Befund führte auf europäischer Ebene zu einem Konsens – ein ungewöhnliches Phänomen in einer Gemeinschaft, die oft von Misstönen geprägt ist. Institutionen, Mitgliedstaaten und Wirtschaftskreise haben sich auf die zu lösenden Probleme geeinigt. Dies ... bildet die Grundlage für den Kurs, den die Kommission nun skizziert hat.“