Der schwedische Weg - Vorbild oder Sackgasse?

Schweden hat von Anfang an auf härtere Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie verzichtet. Grenzen und Grundschulen blieben offen, Ausgangsbeschränkungen wurden nicht verhängt. Angesichts einer anhaltend hohen Todesrate wächst jedoch die Kritik an diesem Sonderweg auch in Schweden selbst. Diese Kontroverse spiegelt sich auch in den Medien.

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Expressen (SE) /

Verantwortung wie Schwarzer Peter herumgereicht

Dass erst nach der Krise eine Untersuchungskommission zur Aufarbeitung möglicher Versäumnisse eingesetzt werden soll, findet Expressen zu spät:

„Schon jetzt beginnt man, mit dem Finger aufeinander zu zeigen. Die Zivilschutzbehörde hat in der Pandemie wenig beeindruckt, und Generaldirektor Dan Eliasson hat [daraufhin] in mehreren Interviews erklärt, dass 'das Amt für Volksgesundheit die Verantwortung für die Bewältigung der Krise trägt'. Sozialministerin Lena Hallengren betont dagegen, verantwortlich für die Beschaffung von Schutzausrüstung seien die Regionen und Kommunen. Die Verantwortung wird wie der Schwarze Peter herumgereicht. Je länger die Regierung damit wartet, eine Untersuchungskommission einzurichten, desto schwerer wird festzustellen sein, was passierte, als Schweden einen ganz eigenen Weg einschlug.“

Svenska Dagbladet (SE) /

Hochmut kommt vor dem Fall

Dänemark, Finnland und Norwegen erwägen, Schweden bei aktuell diskutierten Grenzöffnungen vorerst auszuschließen. Für Svenska Dagbladet kommt das nicht überraschend:

„Zwar ist es der [schwedischen] Regierung auf kurze Sicht gelungen, starke Eingriffe in die persönliche Freiheit zu vermeiden, wofür man sich denn auch auf die Schulter geklopft hat. Allerdings ist der Gewinn gleich null, wenn sich nun zeigt, dass unser Ruf dermaßen geschädigt ist, dass wir außen vor bleiben müssen, während sich das übrige Europa wieder öffnet. ... Schwedens Machthaber betonen oft, dass Schweden selbstverständlich richtig handle und, wer anders vorgeht, die Dinge nicht recht verstehe. Dieser leise, aber nichtsdestotrotz arrogante Nationalismus könnte uns nun teuer zu stehen kommen.“

Neue Zürcher Zeitung (CH) /

Besser für die zweite Welle gerüstet

Längerfristig könnte Schwedens Rechnung aufgehen, meint die Neue Zürcher Zeitung:

„Die schrittweisen Lockerungen und Öffnungen überall in Europa sind nichts anderes als die teilweise Rückübertragung der Verantwortung vom Staat auf die Bürger: Abstand halten, Geschäfte unter Vorsichtsmassnahmen betreiben, möglichst zu Hause bleiben, das gilt in Schweden längst. Ob dies funktioniert, hängt stark vom Ausmass der befürchteten 'zweiten Welle' von Infektionen ab. Und hierbei könnte Schweden besser gerüstet sein als die anderen Staaten. Stimmt die Behauptung des schwedischen Chefepidemiologen Anders Tegnell, dass Ende Mai in Stockholm dank dem Verzicht auf einen Lockdown schon 40 Prozent der Bevölkerung immun gegen das Coronavirus sein werden, dann hätte Schweden einen grossen Startvorteil im Rennen gegen die 'zweite Welle'. Es könnte dann viel weniger Opfer verzeichnen.“

Mladá fronta dnes (CZ) /

Wir sind Versuchskaninchen in einer Reality-Show

Die seit 1974 in Schweden lebende tschechische Autorin Kateřina Janouchová macht in Mladá fronta Dnes ihrer Sorge über Stockholms Sonderweg Luft:

„Wir sind Teilnehmer des weltgrößten Experiments, von dem niemand weiß, wie es ausgeht. Das Land ist gespalten in zwei Lager. Umfragen sagen, dass das Vertrauen in unseren Chef-Epidemiologen Anders Tegnell täglich wachse. Der Personenkult macht ihn zu einem Vater der Nation. Menschen lassen sich sein Bild auf den Körper tätowieren. Kritiker hingegen nennen ihn 'Dr. Tengele', der kaltblütig alte Menschen opfert. ... Und ich, wie viele andere, lege eine Schutzmaske an, wasche mir ausgiebig die Hände, halte größeren Abstand als in Schweden üblich und bete, dass ich gesund bleibe. Dass der tolerante schwedische Weg damit zusammenhängt, dass wir nicht ausreichend Schutzkleidung haben, ist ein Verdacht, den besser niemand laut ausspricht.“

Contrepoints (FR) /

Nicht Stockholm macht die krassen Experimente

Stockholms Strategie wird letztlich als aufschlussreiches Gegenbeispiel dienen, glaubt Johan Norberg, schwedischer Autor und Verfechter von Globalisierung und individueller Freiheit, in Contrepoints:

„Wir brauchen verschiedene Lösungen, um zu sehen, was funktioniert und was nicht, damit wir beim nächsten Mal besser vorbereitet sind. Wir brauchen Experimente. Wobei hier nicht Schweden das Land ist, das experimentiert. Es sind die anderen. Noch nie haben wir auf dieser Welt unsere Gesellschaften und Volkswirtschaften derart lahmgelegt und es wird noch lange dauern, bis wir alle Auswirkungen einer so radikalen Maßnahme überblicken werden. Ich denke, dass alle und vor allem diejenigen, die einen recht aggressiven Ansatz gewählt haben, sich freuen sollten, dass Schweden einen anderen Weg eingeschlagen hat.“

Delfi (LT) /

Von den Eigenheiten der Schweden

Die Hintergründe von Schwedens Sonderweg erklärt der Verwaltungswissenschaftler Arvydas Guogis in Delfi:

„Schwedens Herangehensweise an die Covid-19-Krise kann mit dem Bedürfnis erklärt werden, die Spezifik und Identität des Landes zu bewahren: niemandem in Schweden wird das Recht zugestanden, einen anderen zu bevormunden. Die Zukunft wird zeigen, ob die derzeitige Politik Schwedens richtig ist. Es ist jedoch wichtig, hervorzuheben, dass in früheren Fällen, als es in Schweden schon einmal darum ging, die Spezifik zu wahren, das meist erfolgreich war. ... Man kann nicht behaupten, dass die letzten Globalisierungsjahrzehnte keinen Einfluss auf die schwedische Denkweise und Politik hatten. ... Schweden hat allerdings sein starkes altes Staatsgerüst mit seinen wichtigsten Zügen bis heute bewahrt.“

Ziare (RO) /

Laxheit muss man sich leisten können

Dass andere Staaten nicht dem schwedischen Beispiel folgen können, betont Ziare:

„Die schwedische Theorie geht von dem Prinzip aus, dass das Virus umso aktiver und aggressiver ist, je mehr wir versuchen, uns durch prophylaktische Maßnahmen davor zu schützen. Indem wir eine Erkrankung vermeiden, schwächen wir auch noch unsere Immunität, statt uns dem Ganzen auszusetzen, zu kämpfen und zu siegen. Das würde uns künftig immuner machen. … So wie ein Impfstoff ein Heilmittel ist, erlebt man Heilung auch, indem man die Krankheit durchläuft. Es wäre sogar akzeptabel sie durchzustehen, wenn man ein solch gut aufgestelltes Gesundheitssystem [wie das schwedische] hätte, das einem eine Genesung garantiert.“

24tv.ua (UA) /

Bürger warten nicht auf Befehle von oben

Die Schweden haben einfach eine andere Art mit Herausforderungen umzugehen, erklärt die Juristin Marina Trattner, die seit 15 Jahren in Schweden lebt, beim Fernsehsender 24tv:

„Ich glaube, es sind zwei Gründe, warum es den Schweden gelungen ist, sich auf weniger strenge Methoden zu beschränken als die meisten Länder. Zum einen haben sie sehr früh diese Maßnahmen eingeleitet. Zweitens ist es nicht die Art der Schweden, auf 'Entscheidungen von oben' zu warten. Sie ziehen selbst ihre Schlüsse. Obwohl in Schweden ein Abstand von 1,5 bis 2 Metern empfohlen wird, halten die meisten Schweden einen Abstand von 4 bis 5 Metern ein. Und Radfahrer sogar von 10 bis 20 Metern.“

The Spectator (GB) /

Wirtschaft kommt glimpflich davon

Das Experiment scheint sich zu bewähren, analysiert der Ökonom Fredrik Erixon in The Spectator:

„Tatsächlich sieht die Wirtschaftslage in Schweden im Vergleich zu den schrecklichen Berichten und Szenarien anderswo sensationell positiv aus. ... Eine ausgewogene Reaktion auf die Pandemie muss die Wirtschaft berücksichtigen, wenn die entsprechenden Maßnahmen noch länger als ein paar Wochen andauern sollen. Kein Land kann eine radikale Politik zur Niederhaltung des Virus aufrechterhalten, wenn sie katastrophale ökonomische Folgen hat. ... Schweden wird nicht verschont bleiben, aber die Wirtschaft des Landes wird nicht so verheerend getroffen werden wie anderswo.“

Svenska Dagbladet (SE) /

Schwedens Experten lagen daneben

Die schwedische Gesundheitsbehörde hat wegen schwerwiegender Rechenfehler am Mittwoch eine Studie zurückgezogen, wonach auf jeden nachgewiesenen Corona-Fall im Land 999 unerkannte kämen. Das stellt bisherige Prognosen zur Herdenimmunität in Frage - für Svenska Dagbladet ein herber Schlag, nicht zuletzt gegen den früheren Staatsepidemologen Johan Giesecke, der bei Prognosen gern sein "Bauchgefühl" ins Spiel bringt:

„Man sollte mit dem Träumen von der Herdenimmunität vielleicht noch etwas warten. ... Studien aus Frankreich, Kalifornien und Wuhan zeigen, dass der Bevölkerungsanteil der bereits Infizierten nur einstellig ist. Nur Schweden hat schwedische Experten, aber es ist ja möglich, dass bisweilen auch Experten aus anderen Ländern Recht haben. ... Das Bauchgefühl sollte einem sagen, dass selbstgewisse Aussagen mit Vorsicht zu genießen sind.“

Mladá fronta dnes (CZ) /

Nachbarländer stehen besser da

Der Vergleich mit anderen skandinavischen Staaten sieht für Schweden und seine 10 Millionen Einwohner nicht gut aus, resümiert Mladá fronta dnes:

„Das benachbarte Norwegen mit seinen fünf Millionen Einwohnern musste bis gestern 180 Tote hinnehmen. Schweden dagegen 1.580. Das ist heftig. Die Kritiker des schwedischen Modells verlieren die Geduld. Für sie führt der Weg in die Katastrophe. Die Befürworter dagegen sagen, alles laufe nach Plan. ... Ganz anders verhält sich Dänemark. Premierministerin Mette Frederikson hat dort scharfe Restriktionen durchgesetzt, die wirkten. Das Land kann jetzt wieder lockern. Schweden dagegen wartet weiter auf gute Nachrichten. “

Expressen (SE) /

Zentral und zügig entscheiden

Insbesondere bei der Versorgung mit Medikamenten ist jetzt schnelles Handeln gefragt, appelliert Expressen:

„Als das Apothekenmonopol vor zehn Jahren abgeschafft wurde, entfiel die Aufgabe, die Versorgung mit Medikamenten zu garantieren. Gleichzeitig ist die Gesundheitsversorgung sehr dezentralisiert, Kommunen und Regionen sind für die eigene Krisenbereitschaft verantwortlich. Wie wir nun sehen, bringt dies Probleme mit sich. ... Nun wird [in einem von der Regierung bestellten Gutachten] vorgeschlagen, wieder staatliche Arzneimittellager einzurichten. ... Das muss schnell passieren. Besser rasch handeln und hinterher nachjustieren, als lange zu überlegen, wie man das System am besten gestaltet - während die Welt in Flammen steht.“

Aftonbladet (SE) /

Wir alle haben versagt

Politiker und Bevölkerung haben zugelassen, dass Schweden so schlecht auf Notlagen vorbereitet ist, bedauert Aftonbladet:

„Im Großraum Stockholm gibt es auch zu gewöhnlichen Zeiten zu wenig Intensivbetten. Das Gesundheitswesen ist bis auf die Knochen abgemagert. ... Die Feldlazarette der Streitkräfte sind imposant, aber es sind eben nur zwei. Wenn das Schlimmste eintreffen sollte, gibt es nicht genügend Schutzräume, keine Gasmasken, keine Medikamente, kein Personal, das entsprechend geübt ist. ... Die Krisenbereitschaft reflektiert ein kollektives Versagen: der Regierungen jeglicher Couleur, der öffentlichen Debatte insgesamt und von uns allen, die wir an dieser Debatte teilnehmen.“

Expressen (SE) /

Trügerisches Bild vom gallischen Dorf

Expressen warnt vor nationalem Hochmut:

Flüchtlingskrise, Terroranschläge, Bandenkriminalität - das schwedische Selbstwertgefühl hat in den letzten Jahren gelitten. Die Corona-Krise gibt nun altbekannter Selbstgerechtigkeit wieder Aufschwung. ... [Man ist stolz auf] eigenständige Behörden mit einer Armlänge Abstand zu übereifrigen Ministern. Nach diesem Narrativ trifft die Corona-Krise auf der ganzen industrialisierten Welt auf populistische Führer, die Grenzen und Schulen nur schließen, um Handlungskraft zu demonstrieren. Auf der ganzen? Nein! Ein kleines Land trotzt erfolgreich dem Populismus. ... Gewiss: Modelle, wonach sich Minister in Details einmischen können, haben Nachteile - in Israel und Ungarn sind die Gefahren eines Ausnahmezustands derzeit deutlich zu sehen. Aber: In einer Krisensituation ist es auch offenkundig von Vorteil, wenn die führenden Politiker Klartext reden.“

Upsala Nya Tidning (SE) /

Experten können Politiker nicht ersetzen

Upsala Nya Tidning erkennt in der Vorgehensweise des Landes demokratische Defizite:

„Wir müssen den Experten vertrauen, hieß es zuletzt immer wieder. Ständig betonen unsere Minister, dass die Regierung dem Rat der Behörden folge. Die Empfehlungen des Instituts für Volksgesundheit haben Gewicht. So weit, so gut, aber die politische Verantwortung muss dennoch bei den Volksvertretern liegen. ... Natürlich spielen die Experten eine wichtige Rolle in der Corona-Krise. Aber die ethischen, sozialen und ökonomische Erwägungen müssen der Politik obliegen. Diese Verantwortung kann nicht delegiert werden. Unsere Volksvertreter haben wir nicht umsonst.“