Keine Normalität ohne Corona-Apps?

Um möglichst rasch eine weitgehende Rückkehr zur gesellschaftlichen Normalität zu ermöglichen, diskutieren europäische Staaten aktuell die Einführung freiwilliger Apps. Sie sollen Nutzern ähnlich wie etwa in Südkorea Kontakte mit Infizierten anzeigen. Kommentatoren debattieren, ob der Nutzen der Apps die damit verbundene Überwachung rechtfertigt.

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The Irish Times (IE) /

Staatlich kontrolliert und zeitlich begrenzt

Es ist nicht unmöglich, die Menschen von einer Corona-App zu überzeugen – aber nur unter bestimmten Bedingungen, ist The Irish Times überzeugt:

„Eines der wichtigsten Entscheidungskriterien ist die Datenkontrolle. ... Die Mehrheit der Menschen hätte weitaus größeres Vertrauen in eine App, die von Regierungsstellen wie der nationalen Gesundheitsbehörde entwickelt und betrieben wird - unter der Bedingung, dass so wenige Firmen oder Personen wie möglich von außen einbezogen werden, im Idealfall gar keine. Schließlich ist es wichtig, dass jede Kontaktverfolgungs-App, die während dieser Pandemie eingeführt wird, zeitlich begrenzt und vollständig reversibel ist. Sie darf nicht im Standby-Modus für eine mögliche zukünftige Verwendung bleiben.“

Frankfurter Allgemeine Zeitung (DE) /

Angst vor totaler Überwachung ist unnötig

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung kritisiert die deutschen Bedenkenträger, die sich um den Datenschutz sorgen:

„Gesetzt den Fall, das Robert-Koch-Institut mutierte zu einem dunklen Imperium und wollte mit den gewonnenen Daten eine Gesundheitsdiktatur errichten. Was würde passieren? Das Bundesverfassungsgericht würde die App für verfassungswidrig erklären, das Ansehen des RKI läge danieder, und die Regierungsparteien würden bei nächster Gelegenheit auf die Bretter geschickt werden. ... Es geht darum, einer Wirtschaft aufzuhelfen, die durch die Verödung des gesellschaftlichen Lebens in die Knie gezwungen wurde, die Schlagbäume an Europas Grenzen wieder überflüssig zu machen, Zehntausende Tote und großes Leid zu verhindern. Die ganze Auseinandersetzung wirkt wie ein Streit unter Soldaten darüber, ob ihr Panzer noch TÜV hat oder nicht.“

La Repubblica (IT) /

Falscher Umgang mit richtigem Instrument

In Italien soll die App Immuni eingeführt werden, um Nutzern Kontakte mit Infizierten anzuzeigen. Der Journalist Riccardo Luna, Mitglied im Entwicklungsausschuss für die App, bangt in La Repubblica um das Projekt:

„Da sie nicht obligatorisch sein wird (gemäß der Vorgaben der EU), wird eine massenhafte Anwendung nur möglich sein, wenn ein Klima des Vertrauens um die App herum entsteht; wenn die Bürger ihren Nutzen erkennen und sicher sein können, dass sie nicht für missbräuchliche Zwecke verwendet wird. ... Alle bisherigen Schritte der Regierung gehen in die entgegengesetzte Richtung. Über die funktionellen Details herrscht mangels offizieller Dokumente Verwirrung; warum gerade diese App ausgewählt wurde, bleibt im Dunklen. Der Vertrag ist unterzeichnet, aber das Parlament ist noch nicht informiert worden. ... Ohne radikalen Kurswechsel ist das Projekt dazu bestimmt, zu scheitern.“

The Times (GB) /

Nur Tracking ermöglicht Bewegungsfreiheit

An mehr digitaler Überwachung führt kein Weg vorbei, meint The Times:

„Um ein gewisses Maß an Normalität wiederherstellen zu können, bevor ein Impfstoff gefunden wird, müssen wir die Notwendigkeit akzeptieren, dass der Staat auf mehr Informationen über uns, unsere Gesundheit und unseren Aufenthaltsort zugreift. Und wir dürfen nicht kostbare Wochen damit verschwenden, darüber zu streiten. Blicken wir doch nach Ostasien, dort können wir sehen, wie die digitale Überwachung ein wesentlicher Aspekt der Rückkehr zum 'normalen' Leben ist. ... Die Verwendung von Smartphone-Tracking mit all den zu erwartenden Vorsichtsmaßnahmen zur Gewährleistung der Anonymität scheint angesichts der Tatsache, dass Tausende Menschen sterben und Teile unserer Wirtschaft vor dem Ende stehen, eine vollkommen verhältnismäßige Maßnahme zu sein.“

Les Echos (FR) /

App-Pflicht nicht ausschließen

Auch die französische Regierung arbeitet zurzeit an einer Tracking-App namens StopCovid, für die eine freiwillige Nutzung angestrebt wird. Als nicht besonders effizient bewerten die Wirtschaftsrechtler Ariane Mole und Willy Mikalef in Les Echos die Idee:

„Wenn die Ablehnung, die App zu nutzen, zu keinerlei Ausgeheinschränkungen führt, bedeutet dies, dass die Nutzungsverweigerer trotz Gefährdung des Lebens Anderer gleichermaßen von der Aufhebung der Aussgangssperre profitieren können. Daher ist nicht sicher, dass dieser Ansatz die Arbeit des medizinischen Personals im Hinblick auf eine Überwindung der Krise unterstützt und dass die Franzosen dann ein Interesse an der Nutzung von StopCovid sehen. Die Regierung sollte daher einen gesetzbasierten Ansatz nicht von vornherein ausschließen. ... In einer so neuartigen wie ungewissen Phase darf Vorsicht Pragmatismus nicht ausblenden.“

De Morgen (BE) /

Wenig smarte Anwendungen

Die Apps wecken falsche Hoffnungen, warnt De Morgen:

„Corona-Apps werden in den Medien vorab zwar vielfach als 'intelligent' bezeichnet, aber sie sind alles anderes als das. Ein App registriert nicht den Kontext eines Kontakts, sondern nur den Kontakt selbst. Wenn man also eineinhalb Meter von seiner Großmutter vor dem Fenster des Altenheims steht, dann ist das für die App ein Kontakt. Falls die Großmutter überhaupt ein Smartphone hat, auf dem sie die App installiert hat. ... Angesichts der Zahl der Anwender, der Limitiertheit der App und den Sorgen im Zusammenhang mit den Grundrechten sollte man nicht allzu viel Heil von einer App erwarten.“

De Volkskrant (NL) /

Sinn muss allgemein bezweifelt werden

Die Tracing-Apps, die in den Niederlanden eine Lockerung der Corona-Maßnahmen ermöglichen sollten, wurden von Datenschutzexperten als unbrauchbar bewertet. Dieser Plan muss schnell aufgegeben werden, fordert De Volkskrant:

„Nach den ersten Tests mit den App-Kandidaten sind die Sorgen der Datenschützer nur noch größer geworden, sind die technischen Hindernisse größer als gedacht und wird der Sinn des Plans allgemein bezweifelt. Die Regierung muss sich fragen, wie sie ohne Zwang die notwendigen 60 Prozent der Bevölkerung überzeugen will, mitzumachen. Und was sind eigentlich die Konsequenzen für die Leute, die mitmachen, sich dann aber doch nicht an die Absprachen halten?“