Donezk und Luhansk anerkannt - folgt jetzt Annexion?

Russland hat die von pro-russischen Separatisten kontrollierten Gebiete in der Ukraine - die "Volksrepubliken" Donezk und Luhansk - als eigenständige Staaten anerkannt. Präsident Putin unterschrieb am Montag ein entsprechendes Dekret, befahl die Entsendung russischer Truppen in die Donbass-Regionen und hielt eine kriegerische Rede. Was er damit genau bezweckt, beurteilen Europas Medien sehr unterschiedlich.

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NV (UA) /

Abschiedsgruß vom Täter

Letztendlich ist Putins Entscheidung der Anerkennung ein Zeichen von Schwäche, meint der Investmentbanker Serhij Fursa in NV:

„Putin hat der Ukraine ein großes Geschenk gemacht. ... Er hat die Ukraine aus der Verantwortung für die Minsker Vereinbarungen entlassen. Damit gibt er den Versuch auf, seine Krebstumore in den Körper der Ukraine zu stopfen und uns durch sie zu regieren. Putin hat nur formalisiert, was faktisch schon lange besteht. Jetzt hat Putin die Ukraine vollständig aufgegeben. Und seine Rede, seine verrückte Rhetorik ist nur der Abschied eines Missbrauchstäters von seinem Opfer, das er nicht festhalten kann. Dies ist ein Abschiedsgruß. … Es war einfach die einzige Möglichkeit, das Gesicht eines Diktators zu wahren, der kein Recht hat, innerhalb des Landes Schwäche zu zeigen.“

Efimerida ton Syntakton (GR) /

Europa muss ernsthaft mit Russland verhandeln

Efimerida ton Syntakton hält die Anerkennung für reine Taktik:

„Die Anerkennung ist keine Annexion - wie Putin es 2014 mit der Krim getan hat - und noch viel weniger eine Invasion. Vielmehr handelt es sich um einen letzten Schachzug aggressiver Diplomatie, der vollendete Tatsachen schafft und Kyjiw, die USA und Europa unter Druck setzt, sich endlich an den Tisch zu setzen und ernsthaft zu diskutieren, was der Kreml wirklich will. Die nächsten 24 Stunden werden entscheidend sein, nicht nur für die Zukunft der Ukraine und der Bevölkerung, sondern auch für den künftigen Frieden und Wohlstand - insbesondere im Energiesektor.“

La Stampa (IT) /

Putin wird sich kaum mit dem Donbass begnügen

La Stampa befürchtet hingegen, dass die Frage nicht mehr ist, ob es eine russische Invasion in der Ukraine gibt, sondern wie:

„Sicher ist nur, dass man Putins Aussagen nicht trauen kann und dass der russische Präsident, obwohl er immer wieder seine zynische Rationalität in der Außenpolitik unter Beweis gestellt hat, von Syrien bis zum Kaukasus, von Kasachstan über Libyen bis Mali, in Bezug auf die Ukraine eben diese Rationalität verloren hat. Es gibt viele Anzeichen für eine gefährliche, ja wahnsinnige Entwicklung. Angesichts der weitschweifigen Pressekonferenz des russischen Präsidenten wäre es naiv anzunehmen, dass er hier Halt macht. ... Es ist klar, dass Putin nicht an Donezk und Luhansk interessiert ist, sondern an der gesamten Ukraine.“

Echo Moskwy (RU) /

Jetzt kommt eine strategische Pause

Der Politologe Wladiwslaw Inosemzew vertritt in Echo Moskwy die These, dass Putins Vorstoß fürs Erste beendet ist:

„Er ist nur bereit, bis zu den Grenzen zu gehen, an denen seine Bewegungen keine ernste Gegenwehr zeitigen. Anders als 2014 wurden keine russischen Soldaten losgeschickt, um ukrainische umzubringen. Wie es weiter geht, kann ich auch nicht sagen - aber ich bin mir sicher, den nächsten Akt dieses Dramas sehen wir nicht so schnell. Die äußeren Verhältnisse müssen sich beruhigen und im Inneren muss sich eine 'neue Normalität' einstellen. Erst dann beginnen die Vorbereitungen zur nächsten Spezialoperation, als deren Ergebnis der nächste Nachbar unerwartet ein Stück Staatsgebiet verliert.“

Echo Moskwy (RU) /

Grenzen gelten nicht mehr

Nach Putins Rede müssen sich auch Staaten, die ehemals zur Sowjetunion gehörten, Sorgen machen, meint Echo Moskwy:

„Ernster noch als die faktische Kriegserklärung an die Ukraine ist die völlige Absage an alle Ergebnisse territorialer Grenzziehungen durch den Zerfall der UdSSR. Die ZK-Entscheidung von 1989 über das Recht auf formelle Selbstbestimmung der Republiken wurde als falsch und schädlich bezeichnet. Hier liege die Wurzel des Bösen, das war es, als Russland auf einen falschen Weg geriet. ... Dies ist eine Erklärung von territorialen Ansprüchen an alle, die irgendwann einmal (freiwillig oder nicht) zur Sowjetunion gehörten. Wir kehren also zur Kernfrage von 1991 zurück: Erwartet uns ein 'jugoslawisches Szenario' oder nicht? Und das alles nur, weil er [Putin] ewig auf seinem Stuhl sitzen möchte.“

La Repubblica (IT) /

Die Auferstehung von Großrussland

Mit der am Montag gehaltenen Rede knüpfte der russische Präsident mitnichten an die Zeiten der Sowjetunion an, analysiert La Repubblica:

„Wladimir Putin fordert die Welt heraus und schreibt die Geschichte neu. Er bietet seinem Volk eine imperiale Vision an, um eine militärische Intervention zu rechtfertigen. Er streicht nicht einfach das Kapitel, das mit der Auflösung der UdSSR 1991 aufgeschlagen wurde. Er dreht den Zeiger genau ein Jahrhundert zurück: Auf 1922, womit er sogar die bolschewistischen Entscheidungen infrage stellt, die zur Gründung der Sowjetunion führten. Alles falsch, denn es gibt nur eine Realität: Großrussland, zu dem die Ukraine schon immer gehörte.“

Seznam Zprávy (CZ) /

Putin kann die Zeit nicht zurückdrehen

Seznam Zprávy gibt zu bedenken:

„Putin sagt, der Westen habe [mit der Osterweiterung der Nato] sein Wort gebrochen und müsse jetzt die russischen Bedingungen erfüllen. Aber er sagt nicht, dass damals auch von sowjetischer und damit russischer Seite Versprechungen gemacht wurden. Zum Beispiel, dass Moskau eine vollständige Demokratie errichten oder dass es die Menschenrechte in Russland respektieren werde. ... Putin, der zur Jahrtausendwende in den Kreml eingetreten ist, hat es zweifellos geschafft, Russland einen Teil seines Supermachtstatus zurückzugeben. Aber er kann die Geschichte nicht ändern. Ende 1991 zerfiel die Sowjetunion und mit ihr die zum Kalten Krieg gehörende Methode zur Durchsetzung von Machtansprüchen. Wenn der russische Machthaber das nicht wahrhaben will, verliert er den Realitätssinn.“

Club Z (BG) /

Es wird beim Donbass bleiben

Club Z glaubt nicht, dass der Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine über die Separatistengebiete hinausgehen wird:

„Mit einem groß angelegten Angriff auf die Ukraine würde Russland zu einem Schurkenstaat werden. Dies bedeutet Isolation, in der Russland vollständig von China abhängig werden würde. Die Wirtschaftssanktionen in einem solchen Krieg würden lähmend sein. Jetzt ist die Mehrheit der Russen einfach nur arm. Durch die Sanktionen werden sie jedoch Hunger erleben. Wenn die Leichensäcke mit jungen russischen Soldaten von den Schlachtfeldern zurückkehren, wird das russische Volk erkennen, dass sein Präsident es in ein neues Afghanistan und ein neues Tschetschenien geführt hat. Ob Putin das will?“

El País (ES) /

Gemeinsam für eine multilaterale Weltordnung

Wie wichtig es ist, dass der Westen jetzt weiterhin zusammenhält, mahnt El País:

„Den westlichen Demokratien ist es gelungen, angesichts der Herausforderung Moskaus eine bemerkenswerte Einigkeit zu schmieden. ... Es ist von entscheidender Bedeutung, dass diese Einigkeit - die in Moskau und Peking mit Enttäuschung zur Kenntnis genommen wurde - angesichts der ernsten Herausforderungen, die vor uns liegen, fortbesteht. ... In dieser Krise geht es nicht nur um das Leben der ukrainischen Bürger, sondern auch um die Weltordnung. Es kann eine multilaterale sein, die sich auf das Völkerrecht, die Diplomatie und die Menschenrechte stützt, oder eine multipolare, die sich auf den Wert der bloßen Macht, auf die Einflusssphären und die Relativierung von universellen Rechten stützt.“