Merkel verteidigt ihre Russland-Diplomatie

Keine Entschuldigung, kaum Selbstkritik: Altkanzlerin Angela Merkel äußerte sich erstmals seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine ausführlich zur ihrer früheren Außenpolitik. Sie habe während ihrer Amtszeit ausreichend versucht, eine Eskalation mit Moskau zu verhindern, sagte die CDU-Politikerin am Dienstagabend in einem Interview. Wie kam ihr Auftritt an?

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Helsingin Sanomat (FI) /

Die Königin der Kompromisse

Helsingin Sanomat bedauert, dass Merkel nicht eingesteht, dass ihre Russlandpolitik falsch war:

„Merkel ist schockiert über den russischen Angriffskrieg in der Ukraine. Aber sie schiebt die Schuld nicht auf ihre eigenen politischen Fehler. Während Merkels Amtszeit folgte eine Krise auf die nächste und sie war die Königin der Kompromisse. Merkels Motto in der Politik ist immer noch, dass Politik das ist, was gerade möglich ist. Mit dieser Begründung kann man jedoch immer argumentieren, dass die eingegangenen Kompromisse Schlimmeres verhindert haben. Es wäre jedoch wichtig, Fehler zu erkennen und zuzugeben. Europa, aber insbesondere die Ukraine, zahlen für Deutschlands ausgesprochen pro-russische Linie und Energiepolitik einen hohen Preis.“

Wiener Zeitung (AT) /

Mächtige Menschen geben selten Fehler zu

Das fehlende Eingeständnis von Fehlern der Ex-Kanzlerin hat System, meint die Wiener Zeitung:

„Ganz so unbefleckt wird Merkels Amtszeit in Bezug auf den Umgang mit Russland nicht in die Geschichte eingehen. … Richtig zu liegen, recht zu haben, zu wissen, was die Zukunft bringt: Das ist von alters her die wichtigste Aufgabe der Männer und Frauen an der Spitze. Wer die falschen Entscheidungen trifft, die dann auch noch öffentlich werden, dessen Macht neigt sich dem Ende zu. … Je mächtiger ein Politiker, desto weniger kann er eigene Fehler offenherzig eingestehen. Diese Fehler dennoch aufzudecken, ist der Job einer kritischen Öffentlichkeit, der Medien zuvorderst. … Dabei geht es Medien wie der Politik: je meinungsstärker, je kantiger, desto höher die Quote an Irrungen und Verwirrungen.“

De Standaard (BE) /

Sie merkelt mal wieder

Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel trat auf wie gewohnt, stellt De Standaard fest:

„Die Frage, ob wir nicht ab 2008 und sicher nach 2014 den geopolitischen Ambitionen von Putin hätten Einhalt gebieten müssen, stellte sie nicht. ... Merkel zeigte sich von ihrer besten Seite: Sie merkelte. Sie stellte keine grundsätzlichen Fragen, sie kam nicht mit einer Vision. 16 Jahre lang suchte sie schnelle Lösungen für unerwartete Ereignisse. Sie rühmte sich immer, dass sie nicht der Typus Politikerin war, die mit großen Worten eine voluntaristische Vision verkündigte. Es ist müßig zu spekulieren, wie die Ukraine aussehen würde, wenn Merkel vor zehn Jahren doch auf den Tisch gehauen hätte.“

El País (ES) /

Kein Geständnis

Der Kolumnist Lluís Bassets zeigt sich in El País enttäuscht von Merkels Worten, achtet aber ihren Pragmatismus:

„Merkels Erklärung schiebt allen Verantwortung zu. Sie trifft alle, die ein gemeinsames Sicherheitssystem in Europa aufbauen sollten, um Gräueltaten wie die Invasion in der Ukraine zu verhindern. ... Wenn sie etwas hätte tun können, um den Krieg zu verhindern, hat sie es nicht zugegeben. Sie hat auch nicht zugegeben, dass sie nicht geschickt genug war, um die Energieabhängigkeit von Russland zu verringern. ... Aus Merkels Worten geht hervor, dass sie Emmanuel Macrons Vorstellungen teilt. Russland wird nicht von der Landkarte verschwinden ... Mit Russland gibt es jetzt wenig zu besprechen, aber es darf nicht gedemütigt werden. Die Zeit des Dialogs wird kommen, und er darf nicht ohne die Ukraine geführt werden.“

Mediafax (RO) /

Altkanzlerin ist nicht aufrichtig

Altkanzlerin Angela Merkel habe nicht zugeben können, dass ihre Russland-Politik verfehlt war, findet der Historiker Marius Oprea in Mediafax:

„Merkel hat den richtigen Zeitpunkt gewählt. Die Aufregung [zum Ukraine-Krieg] ist verflogen. So sehr, dass ihre Entschuldigungen und Rechtfertigungen für schwerwiegende politische Fehleinschätzungen nun plausibel sind und als solche hingenommen werden - niemand hält sich jetzt noch mit Haarspalterei auf. Unter dem Deckmantel dieser Voraussetzungen lügt Angela Merkel - sowohl durch Auslassung als auch durch Interpretation der Fakten. Wie viele Politiker kann sie nicht einmal zugeben, dass sie sich, menschlich gesehen, geirrt haben könnte.“