Italien: Gibt es einen Weg aus der Regierungskrise?

Am Mittwoch und Donnerstag tritt der italienische Premier Mario Draghi vor die beiden Parlamentskammern. Wohl danach wird er entscheiden, ob er seinen vergangene Woche angekündigten Rücktritt wahrmacht. Draghi hatte eine Senatsabstimmung, bei der die Abgeordneten von Cinque Stelle geschlossen den Saal verlassen hatten, als Koalitionsbruch gewertet. Kommentatoren beleuchten die Perspektiven für Italien und Europa.

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La Repubblica (IT) /

Alle fordern Draghis Bleiben

Der Premier wird das Land nicht im Stich lassen, lautet die Prognose von La Repubblica:

„Alle fordern, dass er die Regierung durch die letzte Etappe einer schwierigen Legislaturperiode lenkt. Italiens Partner in Europa und den USA, die großen westlichen Zeitungen, die Wirtschafts- und Finanzzentren. ... Die Liste ist lang und alle wissen es. Die parlamentarische Mehrheit hat er nie verloren. Aufgelöst hat sich nur die Fraktion der Cinque Stelle. Was fehlt also, um diese Sommerkrise als abgeschlossen zu betrachten? Man muss eine Lösung dafür finden, wie der Bruch zwischen dem 'technokratischen' Premierminister und einer zersplitterten Koalition überwunden werden kann.“

Der Standard (AT) /

Rücktritt wäre eine Hiobsbotschaft

Kolumnist Paul Lendvai hofft in Der Standard, dass sich der Rücktritt abwenden lässt:

„Draghi gelang es, an der Spitze einer wackligen Regierung der nationalen Einheit das Vertrauen der Finanzmärkte für das mit 151 Prozent der Wirtschaftsleistung hochverschuldete Land zurückzugewinnen und auch die EU-Kommission von der sinnvollen Verwendung der versprochenen Zuschüsse und Darlehen zu überzeugen. Draghi war bisher ein Glücksfall - nicht nur für Italien. Sein unwiderruflicher Rücktritt am Mittwoch wäre ein Desaster für Italien und eine Hiobsbotschaft für die mit der Schwächung des Euro und der Inflation ringenden Europäischen Union.“

Financial Times (GB) /

Jeder Tag mit Draghi zählt

Von vorzeitigen Neuwahlen hält Financial Times nichts:

„Auch wenn es riskant ist, eine Wahl zu verzögern - und eine von Draghi geführte Koalition könnte den Anschein erwecken, ohne Mandat zu straucheln - so ist es doch viel besser, ihm noch die Zeit zu geben, in den nächsten Monaten wichtige politische Maßnahmen voranzutreiben. Es sollte Priorität haben, den nächsten Haushalt abgesegnet zu bekommen und die Reformen durchzusetzen, die erforderlich sind, um Gelder des 750 Milliarden schweren Covid-Hilfspakets der EU zu bekommen, von denen 200 Milliarden für Italien vorgesehen sind.“

De Standaard (BE) /

Achillesferse der EZB

Die Instabilität Italiens ist ein großes Risiko für die Inflationskontrolle im Euroraum, warnt De Standaard:

„Draghi ist der Garant dafür, dass Italien mit strenger Hand geführt wird und sich an Absprachen hält. Der Mann, der selbst als Zentralbanker den Euro rettete, genießt das Vertrauen der Finanzmärkte. Verschwände er von der politischen Bühne, verlöre die EZB einen Verbündeten in einem der wichtigsten Länder der Eurozone. ... Italien ist die Achillesferse der EZB-Strategie. Ohne stabile Regierungsmannschaft in Rom ist es für Frankfurt schwierig, alles im Kampf gegen die Inflation zu tun. Die EU steht vor großen Herausforderungen und braucht Führungskräfte, die Vertrauen ausstrahlen.“

Ta Nea (GR) /

Putin hat hier einen Keil eingeschlagen

Ta Nea schreibt:

„Tatsächlich ist die Krise eine weitere Auswirkung der russischen Invasion in der Ukraine, denn die grundlegende Differenz zwischen [Ex-Premierminister und Fünf-Sterne-Chef] Conte und Draghi betrifft das Thema der Bereitstellung von Militärhilfe für Kyjiw [die Conte ablehnt]. ... Schließlich war es schon immer eines der Hauptziele des russischen Präsidenten Wladimir Putin, das europäische Konstrukt mit allen Mitteln zu untergraben, indem er Unsicherheit und Spannungen schürte.“

The Economist (GB) /

Kein leichtes Spiel für Super Mario

Einen wirklich guten Ausweg aus der Lage gibt es nicht, bedauert The Economist:

„Ein neues Kabinett ist keine attraktive Aussicht für Draghi und keine der Alternativen ist verlockend für Italien oder Europa. Eine davon ist eine vorgezogene Neuwahl, die aber nicht vor Ende September abgehalten werden könnte. Eine andere ist die einer Übergangsregierung unter Führung einer weniger richtungsweisenden Person, als der des Mannes, dessen Verteidigung des Euro 2012 dazu führte, dass er den Spitznamen 'Super Mario' erhielt. Während sich diese jüngste, überaus verwirrende italienische Krise entfaltet, erklärte ein Vorgänger Draghis, der Europäische Kommissar Paolo Gentiloni, dass er und seine Brüsseler Kollegen die Ereignisse mit 'besorgter Verwunderung' verfolgen. Damit sind sie nicht allein.“

La Stampa (IT) /

Neuwahlen sind der einzige Ausweg

Draghi sollte den Forderungen widerstehen, es doch noch einmal mit einer neuen Regierung zu versuchen, rät Kolumnistin Lucia Annunziata in La Stampa:

„Die kommenden Tage werden von den üblichen nationalen und internationalen Appellen, Versprechungen und Aufforderungen an den Premierminister geprägt sein, sich wieder zur Verfügung zu stellen. Im Namen des Landes, wie immer. Stattdessen hoffe ich für uns alle, dass Draghi sich zurückzieht. … Die einzige Möglichkeit, dem Land zu helfen, aus seiner Erstarrung aufzuwachen, besteht darin, den kranken König - das Parteiengefüge - nackt zu halten: Da hilft nur eins. Wählen gehen, und zwar sofort, und aufhören, so zu tun, als seien stabile Mehrheiten möglich.“

Die Presse (AT) /

Ohne Übervater ist die Sicherheit weg

Die Presse befürchtet Konsequenzen für Europa:

„Diese Krise ist anders. Sie droht schmerzvoll zu werden - nicht nur für Italien. … Dank Draghi spielte Rom zuletzt wieder in Europas A-Liga, gemeinsam mit Paris und Berlin, hielt das fragile EU-Gefüge zusammen. … Beeindruckend war, wie gut Draghi seine Minister in der quasi Allparteienkoalition bis zuletzt im Griff hatte. Sie waren loyal, boten ihren Parteichefs ganz offen die Stirn oder kehrten ihnen gar den Rücken zu. … Diese Regierungsform mit dem Draghi-Übervater sorgte in Italien für verhältnismäßige Stabilität und Effizienz - was auch Partner beruhigte. Diese Sicherheit ist seit gestern gefährdet.“

Avvenire (IT) /

Ausgerechnet jetzt

Das ist der verkehrteste Moment, schüttelt Avvenire den Kopf:

„Eine politische Krise inmitten einer Rezession mit einer allgemeinen Verarmung der Bürger, während einer Pandemie, einem offenen Krieg im Herzen Europas, einer schwerwiegenden Energieknappheit, einer weltweiten Nahrungsmittelknappheit und während eines Klimawandels, der uns eine dramatische Dürre beschert. Kann man sich einen schlechteren Zeitpunkt und Kontext für eine Regierungskrise vorstellen? ... Die Unsicherheit der Italiener, die bereits große Schwierigkeiten haben, einen Arbeitsplatz zu finden oder zu behalten und mit den steigenden Preisen zurechtzukommen, noch zu verschlimmern, ist das Sinnloseste und Masochistischste, was sich die politischen Kräfte für unser Land ausdenken konnten.“