Nationalelf protestiert gegen “One-Love”-Binden-Verbot

Die deutsche Nationalmannschaft hat sich am Mittwoch in Katar vor ihrem WM-Spiel gegen Japan zu einer stummen Geste des Protests aufgestellt: Die Spieler hielten sich den Mund zu, um ein Zeichen gegen die Verbotspolitik der Fifa zu setzen. Der Weltfußballverband hatte zuvor Sanktionen für das Tragen der “One-Love”-Kapitänsbinde angedroht. Bei Kommentatoren stößt die Aktion auf Skepsis.

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Corriere della Sera (IT) /

Auch minimale Geste kann stark wirken

Besser als nichts, urteilt Corriere della Sera:

„Natürlich wäre es durchschlagender und effektiver gewesen, sie [die Fifa und Infantino] direkt herauszufordern, die Binde zu tragen und die drohende kollektive Verwarnung zu riskieren, die ihr Weiterkommen im Turnier hätte gefährden können (hätte die Fifa überhaupt den Mut gehabt, die gesamte Mannschaft auszuschließen?). ... Doch so minimalistisch die Geste der deutschen Nationalmannschaft auch sein mag, sie sollte nicht unterschätzt werden. Vor allem wegen der Stärke des Bildes, eines Fotos, das Verurteilung, Distanzierung und sogar Verhöhnung symbolisiert.“

Der Tagesspiegel (DE) /

Dem Publikum ist das Spiel wichtiger

Für die Protestgeste der deutschen Mannschaft hat Der Tagesspiegel nur Spott übrig:

„Donnerwetter! Um die Geste auch für Begriffsstutzige zu übersetzen: Unter den strengen Augen von Fifa und Katar dürfen wir nicht sagen, was wir denken. Wirklich? Das ist ja schockierend. Wer hätte das gedacht? ... Allerdings beruhte das auf einem Missverständnis, denn der Adressat des Klappehaltens war das Publikum daheim. Ihm galt die Botschaft. Jenseits der moralisch aufgeladenen Region zwischen Flensburg und Konstanz ist es den Menschen vollkommen egal, wie die deutsche Mannschaft posiert. Viel interessanter ist die Frage, wie sie spielt. Wer weiß? Vielleicht war die Hand-vor-den-Mund-Nummer auch prophylaktisch gemeint, im Sinne von: Bitte nicht auch noch über das Spiel diskutieren.“

Deník N (CZ) /

Der Westen überschätzt sich

Deník N hinterfragt kritisch die politischen Proteste europäischer WM-Teilnehmer in Katar:

„Über die WM in Katar wird oft zu Recht empört diskutiert, westliche Mannschaften haben sich Protestformen überlegt. Aber ein wirklich ernsthafter und möglicherweise bedeutender Protest wurde von den Spielern des Iran gezeigt. Die ganze Kontroverse zeigt, dass der Westen seinen Einfluss auf die Wahrnehmung und das Denken der Menschen in anderen Ländern, seine Anziehungskraft für sie möglicherweise überschätzt.“

Weekendavisen (DK) /

Politik gehört nicht in die WM

Die Fifa hatte Recht, die One-Love-Armbinde zu verbieten, meint Weekendavisen:

„Stellen wir uns vor, der Kapitän von Katar wollte ausdrücken, was man in seiner Heimat und im Rest der Nachbarschaft aus offizieller Sicht über Homosexualität denkt. Wenn [der dänische Kapitän] Simon Kjær seine regenbogenfarbene Armbinde tragen darf, wäre es heuchlerisch, der Nationalmannschaft von Katar zu verbieten, genau den gegenteiligen Standpunkt zu vertreten. So könnte sich auf dem Spielfeld schnell ein ganz anderer Kampf entwickeln als der, den ein Schiedsrichter im Griff behalten kann. ... Trotz aller Differenzen muss ein Raum erhalten bleiben, in dem sich die Welt treffen kann. Andernfalls müssen wir Turniere danach aufteilen, ob wir dieselben Werte wie unsere Gegner haben.“

Berlingske (DK) /

Kreative Lösungen sind gefragt

Auch Dänemark hat in seinem ersten Gruppenspiel auf die One-Love-Kapitänsbinde verzichtet. Berlingske kritisiert das deutlich:

„Es hätte dem DBU [dänischer Fußballverband] und den dänischen Spielern gut angestanden, angesichts der völlig unvernünftigen Entscheidungen der Fifa mehr Konsequenz zu zeigen. Man hätte zum Beispiel gegen Tunesien einen Ersatzspieler mit der 'verbotenen' Kapitänsbinde starten lassen, eine Gelbe Karte akzeptieren und dann [Kapitän] Simon Kjær mit der offiziellen Kapitänsbinde der Fifa einwechseln können. Oder es hätte eine andere symbolische Markierung gefunden werden können. ... Ein einzelnes Hemd oder Armband kann eine wichtige Symbolkraft enthalten.“

Le Quotidien (LU) /

Dann eben neben dem Spielfeld

Der Protest wird sich durch die Verbote nicht ersticken lassen, freut sich Le Quotidien:

„Die Behörden haben Katar in ein Königreich des Absurden verwandelt, mit der Komplizenschaft der Fifa, die die Augen verschließt und Lektionen über Offenheit erteilt, sobald auch nur die geringste Kritik geäußert wird. Der Widerstand organisiert sich und einige Journalisten haben mit dem berühmten bunten Stück Stoff am Spielfeldrand gearbeitet. Eine deutsche Kommentatorin trug während eines ganzen Spiels ein Regenbogen-Shirt. Und diese Art von Geste wird sich im Laufe des Turniers noch häufen.“

eldiario.es (ES) /

Die zersetzende Wirkung des Geldes

Die Kritik am Gastgeberland sollte sich nicht auf dessen Verfolgung homosexueller Menschen beschränken, mahnt eldiario.es:

„Sollten einige Mannschaften doch noch die Regenbogenarmbinde tragen, wäre das sicherlich eine wichtige Geste, aber die Konzentration darauf könnte dazu führen, dass das Thema auf eine einzige Frage reduziert wird. Katar ist viel mehr als ein Land, das Homosexuelle verfolgt. ... Es ist das Symbol für etwas Tieferes: für eine Lebensauffassung, in der das Geld von Despoten den Willen bricht, das Gewissen zersetzt und die Komplizenschaft derer sicherstellt, die von ihrer gütigen Hand berührt werden.“

Tages-Anzeiger (CH) /

Klarer Fall von Empörungsmentalität

Es ist nicht die Aufgabe der Sportler, die Welt zu retten, erinnert der Tages-Anzeiger:

„Fussballer sollen Ausrufezeichen setzen, die weder von der Politik noch der Wirtschaft kommen. Fussballer sollen sich in einen Machtkampf mit der Fifa verstricken und ihren Erfolg an der WM gefährden, während der deutsche Wirtschaftsminister Robert Habeck den Bückling macht vor dem katarischen Handelsminister, weil Deutschland Gas von Katar will, um sich von Russland loszulösen. ... In diesen Tagen ist eines wieder einmal besonders spürbar: die Empörungsmentalität, wenn es um den Fussball geht. Nirgends wird sie mehr ausgelebt als beim grössten Sport überhaupt, nirgends ist es einfacher, mit dem Finger auf andere zu zeigen und dem puren Populismus anzuhängen.“

The Guardian (GB) /

Das iranische Team zeigt echten Mut

Für die Mannschaft des Iran, die vor ihrem Spiel gegen England geschlossen auf das Singen der Nationalhymne verzichtete, steht ungleich mehr auf dem Spiel, betont The Guardian:

„Die Spieler riskierten damit kein Bußgeld oder eine gelbe Karte, sondern die Vergeltung durch einen rachsüchtigen Staat. Indem sie so handelten, schlossen sie sich anderen mutigen Sportlerinnen und Prominenten an, ebenso wie Hunderttausenden ganz gewöhnlichen Männern und Frauen, die in 155 Städten auf die Straße gingen.“

Pravda (SK) /

Charakterloses Eigentor

Die Fifa und Katar tun weder der Welt noch sich selbst einen Gefallen mit dem Verbot, glaubt die Pravda:

„Fifa-Offizielle sprechen gerne über Vielfalt und Toleranz. Aber wenn es ans Brotbrechen geht, stehen sie nicht für die Werte ein, die sie propagieren. ... Kann Geld heutzutage wirklich alles kaufen? Sollen die Katarer ihre großen Champions-League-Klubs mit Petrodollars füttern. Aber das größte Fußballfest sollten sie nicht verderben. Übrigens erreichen Katar und die Fifa mit dem Verbot der Kapitäns-Binden genau das Gegenteil. Man wird jetzt nur noch mehr über die reaktionären Organisatoren und die charakterlose Fifa diskutieren.“

The Irish Times (IE) /

Teamgeist geht anders

Die teilnehmenden Mannschaften dürfen sich nicht alles gefallen lassen, meint The Irish Times:

„Hätten sich England, Wales, Belgien, Dänemark, Deutschland, die Niederlande und die Schweiz gemeinsam geweigert, das Verbot zu achten, dann hätte sich die Fifa der Lächerlichkeit preisgegeben, wenn sie die Schiedsrichter angewiesen hätte, alle beteiligten Spieler zu verwarnen. Auf der Weltbühne zählen Handlungen. Das konnte man beobachten, als sich das iranische Team - aus offensichtlichem Protest gegen das jüngste repressive Vorgehen seines Regimes - weigerte, die Nationalhymne zu singen.“

Libération (FR) /

Sakrosankter Regelverstoß

Ein würdeloses Anbiedern, ärgert sich Libération:

„Durch ihr Drohen mit einer Gelben Karte verletzt die höchste Instanz des Weltfußballs das Allerheiligste: den Raum des Spiels. Dieser ist seit jeher geschützt und gehört nur den 22 Spielern und deren Schiedsrichtern. ... Indem sie Spielern mit einer Verwarnung für gesellschaftliche Stellungnahmen droht, macht die Fifa genau das, was sie angeblich verhindern will: Sie lädt die Politik aufs Spielfeld ein. ... In den Fußballregeln kann man lange suchen: Die Farbe der Kapitänsbinde wird in keiner der 17 Spielregeln vorgeschrieben. So wird einem klar, dass es eher darum geht, dem Gastgeber Katar zu gefallen. Es wäre besser, das offen zu sagen.“

De Morgen (BE) /

Scheinheilige Empörung

Die Aufregung über das Verbot kann De Morgen nicht richtig ernst nehmen:

„Wenn den teilnehmenden Ländern und ihren berühmten Sportlern das Schicksal der Sklaven-Gastarbeiter oder Schwulen in Katar echt am Herzen gelegen hätte oder die Korruption in eigenen Kreisen, dann hätten sie zwölf Jahre lang Zeit gehabt, die Fifa auf andere Gedanken zu bringen. Oder denken Sie, dass diese WM stattgefunden hätte, wenn Deutschland, die Niederlande und Spanien gemeinsam gesagt hätten, dass sie nicht kommen würden? ... Das geschah nicht. Und eigentlich kann man das den Sportlern nicht übelnehmen. Denn wenn sie nachher wieder zu Hause sind, sind es die Politiker ihrer Regierungen, die ihren Platz in den Hotels und Salons von Doha einnehmen, um mehr Gas zu erbetteln.“