Ukraine startet Gegenoffensive

Die lang erwartete Offensive der Ukraine in ihrem Verteidigungskrieg gegen Russland hat begonnen. Kyjiw bestätigte militärische Aktionen und die Rückeroberung von einigen Ortschaften in der Region Donezk. Moskau meldete die Zerstörung mehrerer vom Westen gelieferter Panzer durch russische Angriffe. Kommentatoren analysieren die aktuelle Lage und fragen sich, was folgen wird.

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Observador (PT) /

Dieser Krieg ist kein Hollywood-Film

Der Historiker Bruno Cardoso Reis warnt den Westen in Observador davor, zu große Erwartungen mit der Gegenoffensive zu verbinden:

„Damit die Ukraine einen Großteil, geschweige denn das gesamte besetzte Gebiet zurückerobern kann, muss sie nicht nur in einem sehr anspruchsvollen und kostspieligen kombinierten Offensivmanöver vorbildlich sein. Irgendwann müsste zudem auch die russische Front zusammenbrechen und damit der Wille und die Fähigkeit Russlands, weiterzukämpfen. Wir wissen nicht und können heute nicht wissen, ob dies der Fall sein wird. Nicht zuletzt, weil Putin sich zu einer Eskalation entschließen könnte, wenn er sich bedroht fühlt. Krieg ist kein Kindermärchen oder ein Hollywood-Film mit einem garantierten Happy End, bei dem die Guten immer gewinnen.“

Turun Sanomat (FI) /

Keine schnellen Siege absehbar

Nicht kurzfristige Erfolge braucht die Ukraine, sondern eine gute Basis für Verhandlungen, meint Turun Sanomat:

„Selbst wenn die Ukraine in der Anfangsphase schnell einige Gebiete zurückerobern sollte, wird die Gegenoffensive wahrscheinlich sehr lange dauern. Entscheidend ist die Fortsetzung der westlichen Militärhilfe. ... Neben der militärischen Hilfe benötigt die Ukraine auch finanzielle, politische und humanitäre Unterstützung. … Auch wenn bei der Gegenoffensive keine schnellen Siege zu erwarten sind, muss das Ziel klar sein: Russland muss so stark in die Enge gedrängt werden, dass Verhandlungen für die Ukraine akzeptabel sind.“

Der Tagesspiegel (DE) /

Scheitern wäre auch Niederlage für den Westen

Für die Ukraine geht es um alles, beschwört der Tagesspiegel:

„Schaffen es die Befreier nicht, größere Gebiete zurückzuerobern, ist es ziemlich wahrscheinlich, dass der Krieg einfriert. ... Zwar hätte in diesem Szenario der russische Präsident Wladimir Putin sein Ziel verfehlt, die gesamte Ukraine oder zumindest die gesamte Ostukraine zu erobern. Dennoch bliebe rund ein Fünftel des ukrainischen Staatsgebietes unter seiner Kontrolle. Es wäre ein schwelender Konflikt, den er eskalieren könnte, sobald seine Armee wieder die Kraft dafür hat. Angesichts des für Moskauer Ansprüche peinlichen Kriegsverlaufs wäre es am Ende ein großer Erfolg. Und eine schmerzliche Niederlage für den Westen.“

Jutarnji list (HR) /

Es scheint voranzugehen

Jutarnji list analysiert die ersten Erfolge der vorrückenden Ukrainer:

„Mehrere Angriffe, konzentriert entlang der Front im Süden und Osten, sind auch ein Test für das neue ukrainische Arsenal westlicher Panzer und Kampffahrzeuge sowie Zehntausender neu mobilisierter Soldaten, die monatelang in Europa ausgebildet wurden. ... Wie erwartet haben die Ukrainer in den frühen Phasen der Offensive Verluste, doch werden sie Ergebnisse zeigen müssen, wenn sie den Geld- und Waffenstrom aus dem Westen erhalten wollen. Man sieht einige Resultate: In den letzten 24 Stunden haben ukrainische Truppen nach eigenen Angaben vier russische Befehlszentren getroffen, sechs Truppensammlungsgebiete, drei Munitionsdepots und fünf feindliche Artillerieeinheiten in Feuerstellungen. Allerdings können diese Meldungen nicht unabhängig bestätigt werden.“

444 (HU) /

Fehlende Luftunterstützung macht es schwierig

Die ukrainische Armee muss ein echtes Kunststück fertigbringen, beobachtet 444.hu:

„Trotz spektakulärer Erfolge ist es noch zu früh für Schlussfolgerungen. ... Die ukrainische Armee versucht gerade, die schwierigste aller Kampfoperationen zu realisieren: das Durchbrechen etablierter Verteidigungslinien. Seit dem zweiten Weltkrieg waren nur die US- und die israelische Armee erfolgreich darin, solche Operationen durchzuführen - in Kriegen, in denen ihre Luftüberlegenheit uneingeschränkt war. ... Bei so einer Durchbruchoperation wäre enge Luftunterstützung essenziell. ... In Ermangelung dessen sind die gepanzerten Einheiten verletzlicher.“

Libération (FR) /

Der hohe Preis der Freiheit

Der Krieg wird noch viele Leben kosten, betont Libération:

„Es gibt zweifelsohne bereits zahlreiche Opfer und wir wissen, dass es noch viele weitere geben wird, denn der Krieg hat immer einen schrecklichen Preis, egal wie hochentwickelt die Ausrüstung ist. Die Gegenoffensive wird den Ukrainern vielleicht ihre Freiheit zurückgeben, aber dafür werden nachts weiterhin die Sirenen vieler Krankenwagen in den Straßen um das Zentralkrankenhaus in Saporischschja herum aufheulen.“

Le Temps (CH) /

Politik der verstrahlten Erde?

Le Temps befürchtet eine atomare Eskalation des Krieges:

„Das jüngste Kriegsverbrechen Russlands, das durch seinen Schaden an Mensch und Umwelt bestürzt, lässt das Schlimmste befürchten. Eine mögliche russische Niederlage könnte sich in eine Politik der verbrannten Erde verwandeln. Denn Moskau ist bereits zur Politik der überfluteten Erde übergegangen. … Wer kann sicher sein, dass Wladimir Putin nicht schon morgen eine Politik der verstrahlten Erde betreibt? Wann wird die russische Armee die Kontrolle über das AKW Saporischschja an Zivilisten übertragen?“