Tausende bei Beerdigung Nawalnys: Was zeigt das?

Der Kremlkritiker Alexej Nawalny ist am Freitag unter großer Anteilnahme der Bevölkerung in Moskau beigesetzt worden. Tausende Russen schlossen sich trotz erheblichen Polizeiaufgebots dem Trauerzug an und legten Blumen am Grab nieder. Einige Teilnehmer riefen Anti-Putin- und Anti-Kriegsparolen. Dem Bürgerrechtsportal OWD-Info zufolge wurden landesweit Hunderte Personen festgenommen. Europas Presse schaut in die Zukunft.

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Neatkarīgā (LV) /

Martyrium mit potenzieller Sprengkraft

Neatkarīgā stellt die Frage, inwieweit Putins Autorität infrage steht:

„Kurzfristig wohl nicht, denn das Regime hat die Schrauben so angezogen, dass Tausende auf dem Borissow-Friedhof bereits eine unerwartet große Demonstration von Zivilcourage darstellen. ... Einerseits zeigt Putin deutlich, dass er keine moralischen Grenzen kennt und im Namen des Machterhalts zu allem bereit ist. ... Er wird jeden vernichten, der es wagt, einen Pieps von sich zu geben. Andererseits hat die Geschichte von Nawalnys Martyrium bereits eine geradezu biblische Handlung erhalten. Und in einem kritischen Moment, der nie im Voraus vorhergesagt werden kann, kann Nawalny als Symbol eine entscheidende Rolle beim Sturz des Regimes spielen.“

Expresso (PT) /

Er wollte einen Riss in der Fassade der Diktatur

Publizist Ian Buruma erklärt in Expresso, warum es für Nawalny einen Sinn ergeben hat, das Exil zu verlassen, um in Russland sein Leben zu riskieren:

„Auf das Dilemma eines Dissidenten gibt es keine allgemeingültig richtige Antwort: Es gibt ebenso viele gute Gründe zu gehen wie zu bleiben, und oft hängen sie von den Umständen ab. Warum also entschied sich Nawalny, sein Leben für eine Sache zu riskieren, von der er wusste, dass er sie zumindest kurzfristig nicht erreichen würde? Weder seine wahrscheinliche Ermordung noch die Alternative, in Westeuropa zu bleiben, würden zum Sturz des russischen Präsidenten Wladimir Putin führen. … Es gab einen Grund: Offener Ungehorsam zerstört die Fassade der totalen Kontrolle einer Diktatur.“

Népszava (HU) /

Die Geschichte wird urteilen

Im ungarischen Parlament ignorierten die Abgeordneten der Regierungspartei Fidesz die Aufforderung eines Oppositionspolitikers, sich für eine Schweigeminute zu Ehren Nawalnys zu erheben, was Népszava verärgert:

„Weder in Budapest noch im Europäischen Parlament hatten die Fidesz-Abgeordneten den Mut, dem Märtyrer eine einfache Ehrerbietung zu erweisen, während in Moskau bei der Beerdigung Tausende mutiger Russen ihm die letzte Ehre erwiesen und damit eine Gefängnisstrafe riskierten. Es wird die Zeit kommen, in der dem in seinen jungen Jahren [in Bezug auf seine Aussagen zu Georgien und der Ukraine] noch irrenden Nawalny Denkmäler errichtet werden, Straßen nach ihm benannt werden und sein Leben und sein Tod in russischen Schulen zum Lehrstoff werden.“

Echo (RU) /

Er hat die Menge angesteckt

Der Oppositionspolitiker und Videoblogger Maxim Katz lobt in Echo den Mut der Moskauer, die zur Beisetzung kamen:

„Ein Menschenmeer bis zum Horizont, eine endlose Schlange von der Kirche bis zum Friedhof. Alles, was die Staatsmacht befürchtet und zu vermeiden versucht hat, ist eingetreten. Das anständige Russland konnte sich endlich einmal zeigen und wurde von der ganzen Welt live gesehen. Alle Welt sah in Direktübertragung, wie die endlose Menschenmenge 'Nein zum Krieg' skandierte - und das unter einem autoritären Regime, im dritten Kriegsjahr. ... Wenn einer öffentlich geprügelt wird, haben hunderttausende Angst - darauf beruht Putins ganze Macht. Aber Nawalny hatte keine Angst, und das war ansteckend.“

Nikolai Mitrochin (RU) /

Nur die Spitze des Eisbergs

Politologe Nikolaj Mitrochin geht auf Facebook davon aus, dass die Opposition in Russland noch viel größer ist als es bei der Beisetzung sichtbar war:

„Die Beerdigung Nawalnys hat gezeigt, dass es trotz Krieg, harter Verfolgung, der Massenemigration hunderttausender seiner Anhänger und Sympathisanten, Werktag, Winter, der abgeschiedenen Ecke Moskaus und des offensichtlichen Umstands, dass die Teilnahme an der Beerdigung 'einer gewissen Person' erfasst und 'sich auswirken' kann (was dem Ereignis - vielleicht zum Glück - die Teilnahme aller VIPs erspart hat) in der russischen Hauptstadt und ihrem Umland noch mehr als jene zehntausend tapferen Anhänger der Anti-Putin-Opposition gibt, die gekommen sind. Denn angesichts der obigen Faktoren sind sie nur die Spitze des Eisbergs. ... Heute war ein trauriger, aber lichter Tag. Mit Perspektive.“

Le Temps (CH) /

Putins Angst vor einem Toten

Die Reaktion des Kremls auf die Beerdigung ist Ausdruck der ängstlichen Seite Putins, beobachtet Le Temps:

„Es gibt auch den Putin, der die Ordnungskräfte dazu bringt, das Mobilfunknetz abzuschalten und Überwachungskameras entlang des Trauerzugs zu installieren. Gemessen an der Angst, die Alexej Nawalny hervorruft, erscheint die von Putin und seinem Regime seit Ende 1999 projizierte Supermacht ganz schön lächerlich. … Das quasi diktatorische Regime, das Putin Russland vor allem seit der Invasion in der Ukraine auferlegt, ist ein Eingeständnis der Schwäche. Der russische Präsident hat Angst vor dem, was Nawalny verkörpert: ein Russe, der gewiss nationalistisch, aber mutig ist und danach strebt, ein anderes Russland zu verteidigen, in dem die Meinungsfreiheit garantiert und die endemische Korruption ausgerottet wird.“

Telegraf (UA) /

Kyjiws stille Verbündete

Die Ukraine sollte auf die russische Opposition setzen, schreibt Telegraf:

„Im Internet gibt es viele spöttische Kommentare über den vegetativen Zustand des russischen Volkes. Denn selbst bei der Beerdigung ihres Anführers hätten sich die formal 'Nicht-Einverstandenen' so still wie möglich verhalten. ... Doch bei allen Widersprüchen werden wir unweigerlich nach Berührungspunkten suchen müssen. … Es gibt mutige und anständige Menschen in Russland. Darunter auch sehr junge Leute. Nur wenige von ihnen sind der Öffentlichkeit bekannt. Sie werden vernichtet. Man sollte nicht zu viel von ihnen verlangen. Sabotage, Versorgung mit Informationen – das ist auch Hilfe.“

Observador (PT) /

Ewiges Symbol des Widerstandes

Der Geist von Nawalny lebt weiter, schreibt der nach Portugal exilierte russische Bürgerrechtsaktivist Pavel Elizarow in Observador:

„Nawalnys Name steht für Millionen Russen, die die europäischen Werte von Frieden, Demokratie und Freiheit teilen und die nicht ignoriert werden dürfen. … Mit Nawalnys Tod durch die Hand von Agenten des Regimes unter den unmenschlichen Bedingungen der Isolationshaft in einem abgelegenen Gefängnis in Sibirien wollte Putin das Symbol der Hoffnung auslöschen, aber stattdessen hat er es für immer verewigt. Diese Hoffnung liegt in der jugendlichen Energie und Vitalität, gegen die ein Regime alter Sowjetfunktionäre nur rohe Gewalt anwenden kann.“